Sirāt
- Walter Gasperi

- 6. Sept.
- 4 Min. Lesezeit

Ein Vater sucht bei Raves in der Wüste Marokkos seine Tochter und begibt sich dabei auf eine zunehmend gefährliche Reise: Oliver Laxe erzählt in seinem Roadmovie, das durch wummernde Techno-Musik und grandiose Wüstenbilder hypnotischen Sog entwickelt, verstörend von Verlust, Selbstfindung und Überwindung der Todesangst.
Ein Insert ist Oliver Laxes in Cannes mit dem Preis der Jury ausgezeichneten vierten Spielfilm vorangestellt, das informiert, dass Sirāt im Islam eine Brücke ist, die der Verstorbene auf dem Weg ins Paradies überqueren müsse. Diese Brücke sei aber so dünn wie ein Haar und so scharf wie ein Schwert, dass jederzeit der Absturz in die darunterliegende Hölle drohe.
Von Anfang an macht der französisch-spanische Regisseur damit klar, dass die äußere Reise, von der sein Film erzählt, vor allem als Allegorie auf das menschliche Leben und eine Selbstfindung zu lesen ist. Gleichzeitig funktioniert "Sirāt" mit den Gefahren, mit denen die Protagonist:innen auf ihrer Reise konfrontiert werden, aber auch als packendes Genrekino.
Dokumentarisch wirkt der Beginn, wenn in der Wüste Marokkos am Fuß einer Felswand mächtige Boxentürme für einen Rave aufgebaut werden, und nach Soundchecks bald die Teilnehmer:innen zu den wummernden Techno-Beats in tranceartigen Tanz fallen.
Eine Spielfilmhandlung kommt in den Film, wenn der knapp 60-jährige Luis (Sergi López) sich mit seinem zwölfjährigen Sohn Esteban (Bruno Núñez) unter die Raver mischt und ihnen ein Foto von seiner Tochter zeigt, die vor mehreren Monaten bei so einem Event verschwunden sein soll.
Weder erhält man Hintergrundinformationen über Luis und seinen Sohn noch über die Raver. Ganz im Hier und jetzt spielt dieses Wüsten-Roadmovie, in dem Sergi López und Bruno Núñez die einzigen professionellen Schauspieler sind, während alle anderen Rollen mit Laien besetzt wurden.
Von Anfang an erzeugt dabei die Technomusik des französischen DJs Kangding Ray in Verbindung mit Mauro Herces körnigen 16-mm-Aufnahmen der rotbraunen Sandsteinberge oder endlos weiter Wüstenebenen einen Sog, der auch die Zuschauer:innen in einen tranceartigen Zustand fallen lässt und bis zum letzten Ton während des Abstands nicht mehr loslässt.
Weil niemand etwas über die Tochter von Luis weiß, aber erwähnt wird, dass es im Süden an der Grenze zu Mauretanien einen weiteren Rave gebe, schließen sich Vater und Sohn mit ihrem Van den Ravern an. Die weltpolitische Lage kommt dabei ins Spiel, wenn von einem Krieg und sogar dem Dritten Weltkrieg gesprochen wird, das Militär die Veranstaltung auflöst und den Tross der Camper, Vans und Geländewagen eskortiert.
Als sich aber zwei geländegängige LKW diesem Zugriff entziehen, folgen auch Luis und sein Sohn dem kleinen Trupp. Ihr Van ist für die rauen Pisten aber kaum geeignet. Mit Hilfe der Raver kann zwar noch ein Fluss durchquert werden, bald aber folgt eine gefährliche Gebirgsstraße und auch weitere Gefahren bleiben nicht aus.
Wie die Fahrt mit ihren Gefahren und die Spannung, die Laxe dabei aufbaut, an Henri-Georges Clouzots Meisterwerk "Le salaire de la peur" (1953) erinnern, so scheint die Suche nach der Tochter von John Fords großem Western "The Searchers" (1956) inspiriert. Doch je größer die Gefahren werden, desto mehr tritt diese Suche in den Hintergrund und nur noch mit sich selbst konfrontiert sehen sich die Figuren.
An die Stelle der biologischen Familie, die Luis durch das Finden der Tochter wiederherstellen will, tritt so für Vater und Sohn zunehmend die Wahlfamilie der Raver. Nur durch gegenseitige Unterstützung können sie in dieser extremen Region überleben und Luis muss lernen sein Besitzdenken und seinen Egoismus über Bord zu werfen.
Intensiv beschwören Laxe und sein Stammkameramann Mauro Herce in diesem zur Gänze im Freien und Abseits jeder Zivilisation spielenden Film die extremen klimatischen Bedingungen mit sengender Hitze und endloser Wüstenlandschaft. Nicht unpassend ist folglich auch der schon vielfach gezogene Vergleich zu George Millers "Mad Max"-Filmen, vor allem zu "Mad Max: Fury Road" (2015).
Auf die bloße Existenz ist der Mensch hier zurückgeworfen. Dessen innere Versehrtheit wird im verkrüppelten Arm eines Ravers und dem amputierten Bein eines anderen nach außen gekehrt. Beim Rave scheint diese Gruppe aber innere Ruhe zu finden, wenn jeder beim tranceartigen Tanz ganz bei sich ist und die scheinbar unrettbar aus den Fugen geratene Welt komplett ausgeblendet wird.
Doch wie geht man damit um, wenn die Existenz durch Verluste erschüttert wird, die so abrupt einbrechen, dass sie auch die Zuschauer:innen nachhaltig verstören. - Kompromisslos zeigt Laxe in seinem radikalen Film, wie man dennoch weiterlebt, nicht nur den Schmerz überwindet, sondern auch Todesgefahren, indem man sich ihnen furchtlos und ruhig stellt. Das Paradies scheint man dadurch zwar nicht zu gewinnen, aber immerhin geht die Fahrt auf einem überfüllten Zug weiter – wenn auch mit offenem Ziel oder ins Nirgendwo.
Sirāt
Frankreich / Spanien 2025
Regie: Óliver Laxe
mit: Sergi López, Brúno Núñez Arjona, Stefania Gadda, Joshua Liam Henderson, Tonin Janvier
Länge: 115 min.
Läuft derzeit in den Kinos, z.B. im Kinok St. Gallen Spielboden Dornbirn: Sa 4.10. + Mi 15.10. - jeweils 19.30 Uhr Filmforum Bregenz im Parktheater Lindau: Mi 8.10., 19.30 Uhr TaSKino Feldkirch im Kino GUK: Fr 17.10. bis So 19.10. FKC Dornbirn im Cinema Dornbirn: Mi 29.10., 18 Uhr + Do 30.10., 19.30 Uhr
Trailer zu "Sirāt"




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