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  • AutorenbildWalter Gasperi

Kritische Blicke auf die Eidgenossenschaft: Der Neue Schweizer Film (1964 – 1985)


Reisender Krieger (Christian Schocher, 1981)

Genoss das Schweizer Kino bis in die 1960er Jahre nur nationale Bedeutung, so brachte der Aufbruch mit Regisseuren wie Alain Tanner, Claude Goretta, Yves Yersin, Daniel Schmid und Fredi M. Murer internationale Beachtung. Das Filmarchiv Austria widmet dieser Erneuerungsbewegung bis 19. Oktober eine Filmreihe.


Während die Mehrsprachigkeit der Schweiz bis in die 1960er Jahre die Entstehung einer nationalen Filmkultur be- oder sogar verhinderte, erschwerte in der deutschsprachigen Schweiz der schweizerdeutsche Dialekt eine Verbreitung der Filme über die Landesgrenzen hinaus.


Auf den inländischen Markt ausgerichtet blieben so Produktionen wie Franz Schnyders Heimatfilme "Uli der Knecht" (1954) und "Uli der Pächter" (1955) oder Kurt Frühs Schilderung des kleinbürgerlichen Milieus in "Polizischt Wäckerli" (1955) oder "Bäckerei Zürrer" (1957). Internationale Bekanntheit erlangte einzig Leopold Lindtberg, der unter anderem für das Flüchtlingsdrama "Die letzte Chance" (1945) verantwortlich zeichnete, sowie die Dürrenmatt-verfilmung "Es geschah am helllichten Tag" (1957), in der Heinz Rühmann die Hauptrolle spielte.


Anfang der 1960er Jahre leitete das Aufkommen des Fernsehens sowie ein Generationenwechsel eine schwere Krise des Schweizer Films ein, bis 1964 nur ein einziger Schweizer Film aufgeführt wurde. Gleichzeitig zeigte die Schaffung eines Filmförderungsgesetzes langsam Wirkung.


Wie in anderen Ländern von Frankreich über Deutschland bis zu den osteuropäischen Ländern meldete sich auch in der Schweiz eine junge Generation von Filmemacher*innen zu Wort, die einen kritischen Blick auf Geschichte und Gegenwart warf. Henry Brandt drehte so die Dokumentarfilmserie "La suisse s´interroge" ("Die Schweiz befragt sich selbst", 1964), Walter Marti und Rene Martens beschäftigten sich in "Ursula oder das unwerte Leben" (1966) mit dem Umgang mit Kindern mit geistiger Behinderung, und Alexander Seiler widmete sich in "Siamo italiani" (1965) den italienischen Gastarbeitern in der Schweiz.


Neue Wege schlug der Schweizer Film, für den 1966 mit den Solothurner Filmtagen auch eine wichtige Plattform geschaffen wurde, auch mit Jean-Louis Roys Science-Fiction-Spionagegeschichte "L´inconnu de Shandigor" (1967) ein. Zu den wichtigsten Vertretern stiegen in der Westschweiz aber der vor einer Woche (11.9. 2022) verstorbene Alain Tanner, Michel Soutter und Claude Goretta auf.


Tanner drehte nach dem in England entstandenen kurzen Dokumentarfilm "Nice Time" (1955) sowie dem Dokumentarfilm "Les apprentis" ("Die Lehrlinge", 1964) mit "Charles mort ou vif" (1969) seinen ersten Spielfilm. Die Geschichte eines Genfer Fabrikanten, der sein Leben radikal ändert, dient dem Genfer dabei als Basis, um ein kritisches Bild Schweizer Wirklichkeit zu zeichnen und Ideen des Mai 1968 dieser Realität gegenüberzustellen. Mit Filmen wie "La salamandre" (1971), "Le milieu du monde" (1974) und "Jonas qui aura 25 ans en l´an 2000" (1975) setzte er seinen Weg fort und stellte den herrschenden Verhältnissen die Hoffnung auf Erneuerung der Schweizer Gesellschaft gegenüber.


Im Gegensatz zum Erzähler und Gesellschaftskritiker Tanner gilt Michel Soutter als der Poet der "Genfer Schule". In seinen Filmen wie "James ou pas" (1970) oder "Les Arpenteurs" ("Die Landvermesser", 1972) führt immer wieder "der Zufall Männer und Frauen gegensätzlicher Herkunft in unvorhergesehenen Situationen zusammen, in denen sie sich offenbaren oder maskieren müssen." (Freddy Buache)


Claude Goretta wiederum wird auch als der "sensible Ethnologe der kleinen Leute" (NZZ) bezeichnet. Als seine Hauptwerke gelten die Kleinbürger-Satire "L´invitation" ("Die Einladung", 1973), in der im Laufe einer Sommer-Party die Alltagsfassade der Belegschaft eines Büros abbröckelt, sowie "La dentelliere" ("Die Spitzenklöpplerin", 1976). Mit großem Feingefühl und genauem Blick für soziale Realitäten erzählt Goretta darin die unglückliche Liebesgeschichte zwischen einer jungen Friseuse, die ihre Gefühle sprachlich nicht ausdrücken kann, und einem Studenten.


Yves Yersin erwies sich dagegen mit "Die letzten Heimposamenter" (1972/73), in dem er die letzten Heimbandweber in Basel-Land porträtierte, als großartiger Dokumentarfilmer, ehe ihm mit seinem Spielfilmdebüt "Les petites fugues" ("Kleine Fluchten", 1979) ein Meisterwerk des Neuen Schweizer Films erzählt. Ruhig und mit viel Feingefühl erzählt Yersin darin von einem alten Knecht erzählt, der lernt zunehmend aus seinem engen Umfeld auszubrechen.


Aber auch das Leben in der Stadt und auf dem Land wurde kritisch unter die Lupe genommen. Während in "Züri brännt" (1981) ein Kollektiv in sechs Videos die Jugendunruhen im Zürich der frühen 1980er Jahre dokumentierte und entschieden für die Jugendlichen Stellung bezog, dienten Christian Schocher im schwarzweißen Spielfilm "Reisender Krieger" (1981) die Fahrten eines Handelsvertreters durch triste Schweizer Städte als Basis, um Entfremdung und Kommunikationsunfähigkeit in der modernen Gesellschaft bewusst zu machen.


Zum Spezialisten für steile Melodramen, in denen die Künstlichkeit zelebriert wird, entwickelte sich dagegen Daniel Schmid ("La Paloma", 1974; "Hecate – Worte kommen meist zu spät", 1982). Mit "Il bacio di Tosca" (1981) gelang Schmid aber auch ein berührender Dokumentarfilm über das Leben alter Opernstars und Musiker in dem von Giuseppe Verdi gestifteten Mailänder Künstleraltenheim "Casa Verdi".


Zum größten Publikumserfolg des Schweizer Films wurde allerdings die Komödie "Die Schweizermacher" (1978), in der Rolf Lissy satirisch anhand der Arbeit von zwei gegensätzlichen Einbürgerungspolizisten die Schweizer Einbürgerungspolitik kritisierte. Schwarze Flecken in der Vergangenheit wurden dagegen im Oscar nominierten "Das Boot ist voll" (1980) aufgedeckt, in dem Markus Imhoof die Flüchtlings- oder vielmehr Abschiebepolitik der Schweiz während des Zweiten Weltkriegs kritisierte. Revidiert wurde damit auch das positive Bild von der Schweiz als Flüchtlingsland, das Leopold Lindtberg in "Die letzte Chance" (1945) wesentlich geprägt hatte.

Auch heute gibt es zwar immer wieder im Schweizer Film Talente zu entdecken und einige Regisseurinnen wie Ursula Meier ("Home", "Winterdieb – L´enfant d´haut") oder Lionel Baier und zuletzt Michael Koch mit "Drii Winter" schaffen auch den Durchbruch, doch die Zeiten des "Höhenfeuers" des Schweizer Films, dem Fredi M. Murer mit seinem gleichnamigen Heimatfilm 1985 einen weiteren Höhepunkt schenkte, sind vorüber und das eidgenössische Filmschaffen ist international heute deutlich weniger präsent als damals. Zumindest derzeit, denn die Zeiten können sich ja ändern. Gegen einen neuen großen Aufbruch des Schweizer Films wäre jedenfalls nichts einzuwenden.



Ausführliche Informationen und Spieltermine finden Sie hier.


Trailer zu "Jonas qui aura 25 ans en l´an 2000"





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