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AutorenbildWalter Gasperi

Mit dem Blick eines Ethnologen: Fredi M. Murer

Aktualisiert: 24. Sept. 2023


Mit "Höhenfeuer" schuf der am 1. Oktober 1940 im Kanton Nidwalden geborene Fredi M. Murer 1985 einen Eckpfeiler des Schweizer Films. Nun nimmt das St. Galler Kinok den 80. Geburtstag des Innerschweizers zum Anlass für eine Retrospektive.


Eng ist die Welt der Bergbauernfamilie in den Urner Alpen, zur Außenwelt gibt es kaum Kontakt. Noch einsamer wird das Leben für den nur "Bueb" genannten gehörlosen Sohn, als er von seinem Vater nach einem Vergehen auf die hoch gelegene Alp verbannt wird. Verstärkt wird seine Einsamkeit noch durch seine Gehörlosigkeit, aber auch seiner etwas älteren Schwester Belli fehlt jede Kontaktperson. Als Belli aber eines Tages ihren Bruder auf der Alp besucht, entwickelt sich eine inszestuöse Liebesgeschichte, die schließlich in eine Tragödie mündet.


Klein gehalten ist die Geschichte von "Höhenfeuer" (1985) und kommt mit wenigen Charakteren und einem Minimum an Dialogen aus. Durch die konzentrierte Erzählweise und die meisterhafte Einbettung des Films in die von Kameramann Pio Corradi großartig eingefangene, ebenso raue wie schöne Gebirgswelt entwickelt dieser "Bergfilm" aber eine Wucht, der man sich nicht entziehen kann. In der Reduktion aufs Wesentliche und in der genauen regionalen Verankerung gewinnt die individuelle Geschichte nämlich archetypischen und universellen Charakter.


Nicht nur den Goldenen Leoparden von Locarno gewann dieses Meisterwerk, sondern wird regelmäßig zum besten Schweizer Film aller Zeiten gewählt. Sein Gespür für die Welt der Bergbauern hat Murer freilich schon elf Jahre zuvor mit dem Dokumentarfilm "Wir Bergler in den Bergen sind eigentlich nicht schuld, dass wir da sind" (1974) bewiesen. Am Beispiel von drei Seitentälern im Kanton Uri beschrieb er darin einen Wandel dieser Welt, indem er dem natürlich gebliebenen Maderanertal, das touristische Schächental, in dem die Bauern mit Fabrikarbeit ihr Einkommen aufbessern müssen, und das Tal der Göschenenalp, in dem das Dorf einem Stausee weichen musste, gegenüberstellte.


Mit diesem Film kehrte Murer, der 1940 als jüngstes von sechs Kindern eines Schreiners und einer Schneiderin in Altdorf / Uri geboren wurde, auch in seine Heimat zurück. Nicht leicht hatte er es als Legastheniker in der Schule und zog als 17-Jähriger nach Zürich, wo er die Kunstgewerbeschule besuchte. Bald wechselte er hier vom Zeichnen zur Fotografie und begann experimentelle Kurzfilme zu drehen. Das Sehen als Thema, das später auch in "Höhenfeuer" mit der Kommunikation mittels Spiegel und Lichtzeichen eine wichtige Rolle spielen wird, findet sich schon hier im Kurzfilm "Vision of a Blind Man" (1969). Von zwei Freunden lässt sich Murer dabei, nachdem er eine lichtundurchlässige Schweisserbrille über die Augen gezogen und sich eine 16mm-Kamera auf die rechte Schulter auf Augenhöhe montiert hat, an 21 ihm unbekannte Drehorte fahren, wo er "nach dem Gehör" filmt und laut vor sich hin denkt.


Fünf Jahre nach "Wir Bergler in den Bergen…" drehte er mit "Grauzone" (1979) seinen ersten Spielfilm. Ganz in Grautöne getaucht wird darin ausgehend von der Geschichte eines Abhörspezialisten, der in eine Krise gerät, atmosphärisch dicht ein Klima der Verunsicherung und eines entfremdeten Lebens evoziert. Den Plänen zur Errichtung eines Endlagers für nuklearen Müll aus Schweizer Atomkraftwerken im Engelbergtal spürte Murer dagegen elf Jahre später im Dokumentarfilm "Der grüne Berg" (1990) nach und fing auch den wachsenden Widerstand der bäuerlichen Bevölkerung ein.


Nur in großen zeitlichen Abständen konnte dieser ruhige Beobachter aber seine Filme realisieren, immer wieder gestaltete sich die Finanzierung seiner Projekte schwierig. Während die utopische Parabel "Vollmond" (1998), die als Bestandsaufnahme des Zustands der Schweiz und der Welt am Ende des zweiten Jahrtausend angelegt war, gemischte Kritiken erhielt, gelang ihm mit "Vitus" (2006), den die Schweiz auch für den Oscar in der Kategorie Bester ausländischer Film einreichte, nochmals ein internationaler Erfolg.


Mit viel Einfühlungsvermögen und starken Schauspielern erzählt Murer darin von einem hochbegabten Jungen, dem es mit Hilfe seines Großvaters gelingt, sich gegen die Ansprüche und den Druck seiner Eltern zu behaupten. Acht Jahre später verabschiedete sich dieser große Chronist der Schweiz mit der Komödie "Liebe oder Zufall" (2014), in deren Mittelpunkt ein altes Ehepaar steht, das sich mit seiner Vergangenheit auseinandersetzen muss, in die Pension. – Bleiben wird von dem Jubilar aber nicht nur sein zeitloses Meisterwerk "Höhenfeuer", sondern auch weitere Filme, die mit ihrem ethnologischen Blick Zeugnisse Schweizer Realitäten und Veränderungen sind.


Details und Spieldaten zur Filmreihe im St. Galler Kinok finden Sie hier.


Trailer zu "Höhenfeuer"


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