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AutorenbildWalter Gasperi

Incroyable mais vrai


Ein Paar entdeckt in seinem neuen Haus einen Tunnel, der das Leben grundlegend verändern kann. – Willkommen in der Welt des Quentin Dupieux, in der mit absurdem Witz Gesellschaftskritik geübt wird.


Der Titel "Unglaublich, aber wahr" passt nicht nur auf den neuesten Film von Quentin Dupieux, sondern auch auf die Vorgänger. Denn auch von einem Autoreifen, der mordend durch die Wüste von Arizonas rollt ("Rubber"), von einer mordenden Lederjacke ("Le Daim - Deerskin") oder einer Riesenfliege, mit der zwei nicht besonders kluge Amateurgangster den großen Überfall machen wollen ("Mandibules"), hat vor dem Franzosen niemand erzählt.


Gemeinsam ist den Filmen des Multitalents, das in den 1990er Jahren als Musiker unter dem Pseudonym Mr. Oizo bekannt wurde, dass Dupieux nicht nur für Regie und Drehbuch, sondern auch für Kamera und Schnitt verantwortlich zeichnet. Dazu kommt, dass sie kaum je länger als 75 Minuten sind und Setting und Personnage klein gehalten sind.


Im Mittelpunkt von "Incroyable mais vrai" steht das Paar Marie (Léa Drucker) und Alain (Alain Chabat), dem zum Glück nur noch ein eigenes Haus zu fehlen scheint. Dies finden sie in einem Vorort. Nach Besichtigung preist der Makler vor allem einen Tunnel im Keller als Highlight an: Grundlegend ändern werde sich das Leben für den, der diesen Tunnel betritt. Danach werde er / sie nicht der oder die gleiche sein wie zuvor.


An Spike Jonzes "Being John Malkovich", in dem man im Halbstock eines Bürohauses in den Kopf von John Malkovich eintreten konnte, erinnert dieser Einfall und ähnlich konsequent treibt Quentin Dupieux seine zentrale Idee weiter. Ist der Mann an der Besonderheit gleich interessiert, zeigt die Frau zunächst Ablehnung gegenüber dem Unerklärlichen. Doch bald lässt das Interesse des Mannes, der darin nur eine Spielerei sieht, nach, während die Frau der Besonderheit obsessiv verfällt. Sie glaubt nämlich damit ihre einstigen Jugendträume von einer Model-Karriere doch noch verwirklichen zu können.


Die Obsession bleibt freilich nicht ohne Folgen für die Beziehung. Weiter lebt das Paar zwar im gleichen Haus, aber offensichtlich in verschiedenen Welten und sieht sich immer weniger. Gleichzeitig zeigen sich bei Marie auch zunehmend psychische Folgen. Äußerlich wird sie zwar jünger, innerlich scheint sie aber zu faulen, wenn schließlich nicht nur ein nach Außen gesunder Apfel im Innern voll Ameisen ist, sondern sich ein Bild einstellt, das an Luis Bunuels "Un chien andalou" einnert. Der genügsame und gutmütige Mann scheint dagegen ganz normal zu altern und das Glück mit seinem Hund beim Angeln am See zu genießen.


Parallel zum Jugendwahn Maries erzählt Dupieux am Beispiel von Alains Chef Gérard (Benoît Magimel) von männlichen Impotenzängsten, die dieser mit einer neuartigen Erfindung zu besiegen versucht. Doch auch diese Erfindung zeigt bald ihre Tücken, sodass der Mann diese Schwäche mit stets neuen protzigen und vorzugsweise leuchtend roten Wagen sowie mit wechselnden jungen Freundinnen überspielen will.


Gewohnt trocken hat Dupieux diese bissige Gesellschaftssatire inszeniert und trocken spielen auch Léa Drucker, Benoît Magimel und Alain Chabat. In alltäglichem Setting spielt sich das Ungewöhnlichste ab und ganz selbstverständlich nehmen dies die Protagonist*innen hin. Aus diesem Widerspruch von Alltäglichem und Absurdem entwickelt sich der Witz von "Incroyable mais vrai".


Für Irritation sorgt dabei auch die Bildsprache, die einerseits ganz realistisch ist, andererseits verleiht Dupieux der visuellen Ebene mit – wie schon in "Deerskin" - vorwiegend in Braun getauchten, ganz einfach gehaltenen, ungekünstelten und teils unscharfen Bildern einen ganz eigenen Look: Man ist in einer ganz alltäglich-vertrauten Welt und doch ist alles leicht verschoben.


Gleichzeitig verdichtet der 48-jährige Franzose im Finale die erzählte Zeit, wenn er die letzten 10 Minuten quasi als Stummfilm ablaufen lässt und mit der weiteren Lebensentwicklung der Protagonist*innen den Wahnsinn des menschlichen Strebens vor Augen führt.


Gewiss nicht jedermanns Sache ist dieser Humor. Wer sich aber auf die absurd-durchgeknallte Welt von Quentin Dupieux einlässt, kann ein weiteres Mal eine ziemlich singuläre, höchst unterhaltsame Kinoerfahrung machen, in der dieses Mal aber auch deutlich offensichtlichere und bissige Gesellschaftskritik an permanenter Selbstoptimierung und Perfektionswahn steckt.


Incroyable mais vrai Frankreich 2022 Regie: Quentin Dupieux mit: Alain Chabat, Léa Drucker, Benoît Magimel, Anaïs Demoustier, Stéphane Pezerat, Roxane Arnal, Grégoire Bonnet Länge: 74 min.



Läuft derzeit in den Schweizer Kinos, z.B. im Kinok St. Gallen


Trailer zu "Incroyable mais vrai"



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