Filmbuch: DEFCON 1 – Die Geschichte des Atombombenkinos
- Walter Gasperi
- 21. Sept.
- 5 Min. Lesezeit

Sassan Niasseri zeichnet nicht nur die Geschichte des Atombombenkinos vom Ende des Zweiten Weltkriegs bis zu Christopher Nolans "Oppenheimer" (2023) detailreich nach, sondern bietet auch Einblick in den jeweiligen historisch-politischen Kontext. Neben Klassikern wie Stanley Kramers "Das letzte Ufer" (1959) und Nicholas Meyers "The Day After" (1983) werden dabei auch weitgehend unbekannte Filme vorgestellt.
Mit Beginn des Ukrainekriegs und Drohungen des russischen Präsidenten Vladimir Putin mit einem Atomschlag sowie nahezu weltweit verstärkter militärischer Aufrüstung ist die Angst vor einem Atomkrieg nach Jahren relativer Sicherheit wieder gestiegen. – Grund genug für Sassan Niasseri die Geschichte der Atombombe und des Atomkriegs im Spielfilm genauer zu untersuchen.
Niasseri, von dem zuletzt im Schüren Verlag "Shoot ´em in the Head – Eine Film- und Seriengeschichte der Zombies" erschien, stellt zunächst das Atombombenkino als eine neue Dimension des Katastrophenfilms vor, die mit Erfindung der Bombe am Ende des Zweiten Weltkriegs seinen Anfang nahm. Auf diese Einleitung folgt, chronologisch angeordnet, die Vorstellung von Filmen zum Thema.
Weitgehend unbekannt dürften dabei vor allem die Werke sein, die Niasseri in der unmittelbaren Nachkriegszeit ausfindig gemacht hat. Hier spannt der Autor den Bogen von Gordon Douglas´ "First Yank into Tokyo" (1945), in dem ein US-Soldat in eine japanische Einheit eingeschmuggelt wird, um von den Japanern gestohlene Pläne für den Bau der Atombombe in die USA zurückzuholen, über Norman Taurogs "The Beginning of the End" (1947), der sich dem Bau und dem Abwurf der Bombe auf Hiroshima widmet, bis zu Melvin Franks "Die letzte Entscheidung" (1952), in dem die Geschichte des Piloten, der die Bombe auf Hiroshima abwarf, als Beziehungsdrama erzählt wird.
Niasseri bietet aber auch Einblick in den neunminütigen Trickfilm "Duck and Cover" (1951), sowie weitere Lehrfilme und Spielzeug zur Bombe, mit dem die Bevölkerung und speziell Kinder auf das richtige Verhalten im Ernstfall vorbereitet werden sollten. Während der Tierhorror, der im Zusammenhang mit der Angst vor radioaktiver Verstrahlung aufkam ("Tarantula", "Formicula"), nur kurz erwähnt wird, wird der Spielfilm "The Atomic Kid" (1954), in dem versucht wurde, komödiantisch von der Strahlenbedrohung zu erzählen, ausführlicher vorgestellt.
Geschickt verbindet Niasseri immer wieder die filmischen Entwicklungen und die Filmbeschreibungen mit den historischen Entwicklungen, wie dem Bau neuer und größerer Bomben, dem Wettrüsten, den Folgen realer Atombombentests sowie Momenten drohender Eskalation des Kalten Kriegs. Nicht nur bei der Kuba-Krise, sondern auch im Handeln des sowjetischen Oberst Stanislaw Petrow, der 1983 bei einem nuklearen Fehlalarm die Nerven behielt, wird so beklemmend deutlich, wie knapp die Welt schon mehrfach an einer atomaren Katastrophe vorbeischrammte.
Ausführlich widmet sich der Autor Stanley Kramers "Das letzte Ufer", 1959), in dem eine kleine Gruppe nach einem Atomkrieg in einem U-Boot nach Australien flieht, aber auch dort keine Hoffnung auf Überleben findet. Spannend sind aber auch die Blicke auf die Survival-Filme "Die Welt, das Fleisch und der Teufel" (1959), in dem Harry Belafonte als Bergarbeiter, der in der Zeche die atomare Katastrophe überlebte, in ein menschenleeres New York zurückkehrt, oder "Panik im Jahre Null" (1962), in dem ein autoritärer Patriarch mit seiner Familie vor der Atomkatastrophe in die Berge flieht.
Zentral sind für die 1960er Jahre aber Stanley Kubricks „Dr. Seltsam oder: Wie ich lernte die Bombe zu lieben“ (1964) und Sidney Lumets „Angriffsziel Moskau – Fail Safe“ (1964), die als Reaktion auf die Kuba-Krise entstanden, sowie Peter Watkins´ 45-minütiges Mockumentary „The War Game“ (1965), das die Folgen eines Atomkriegs schildert. Trotz eines Oscars für den besten Dokumentarfilm wurde dieser Film erst 1985 – also 20 Jahre nach seiner Entstehung – im britischen Fernsehen ausgestrahlt.
Den mit 100 Seiten größten Teil des Buches umfasst das Kapitel "Welt am Abgrund – das zweite Atomzeitalter des Kinos (1979 – 1990)". Den größten Raum nimmt hier Nicholas Meyers "The Day After" (1983) ein. Unterstützt von einem Gespräch mit dem Regisseur, das Niasseri in seine Darstellung einbettet, werden die Entstehung des Films trotz ablehnender Haltung des Militärs und die Erschütterung, die die TV-Ausstrahlung auslöste, ausführlich nachgezeichnet.
Der Autor analysiert aber auch die Diskussion "Viewpoint", die im Anschluss an die Fernsehausstrahlung des Endzeitschockers gesendet wurde und die unter anderem mit Henry Kissinger, Elie Wiesel, Robert McNamara und dem Astrophysiker Carl Sagan sehr prominent besetzt war.
Dazu gibt es auch ein Gespräch mit dem Dokumentarfilmregisseur Jeff Daniels über seine Erinnerungen an die Fernsehausstrahlung von "The Day After", sowie vor allem zu seinem Dokumentarfilm "Television Event" (2020), in dem Daniels die Entstehung und Veröffentlichung von Meyers Atomkriegsfilm aufarbeitete.
Doch auch den im gleichen Jahr wie das TV-Ereignis "The Day After" entstandenen wesentlich ruhigeren Atombombenfilm "Das letzte Testament" (1983) stellt Niasseri vor und baut bei der Analyse dieses Films, der ganz auf das Sterben nach der Katastrophe fokussiert, wiederum Aussagen der Regisseurin Lynne Littman ein.
Die Einarbeitung von Gesprächen mit den Regisseuren belebt aber auch den Blick auf John Badhams "WarGames - Kriegsspiele“ (1983) und Mick Jacksons von der BBC produzierten Spielfilm "Tag Null – Threads" (1984), vermitteln die Filmemacher doch jeweils Einblick in die Hintergründe der Entstehung ihrer Filme und auch ihren Blick auf andere Atombombenfilme.
Mit „Nacht der Entscheidung“ (1988), in dem Steve De Jarnatt RomCom um ein erstes Date, Action und atomare Katastrophe mischt, berücksichtigt Niasseri auch eine ziemlich schräge, aber Kultstatus genießende Produktion.
Drei Viertel des Buches nehmen zwar US- und britische Produktionen ein, doch auf 50 Seiten wird auch Einblick in das japanische, sowjetische und deutsche Atombombenkino geboten. Bei Japan spannt Niasseri den Bogen von Kaneto Shindos "Die Kinder von Hiroshima" (1952) und Akira Kurosawas "Bilanz eines Lebens" (1955) über Keisuke Kinoshitas "Die Kinder von Nagasaki" (1983) und Shohei Imamuras "Black Rain – Schwarzer Regen" (1988) bis zum Animé "Barfuß durch Hiroshima" (1983), die ohne explizite Kritik an den USA die Folgen der Atombombenabwürfe auf Japan schildern.
Auffallend ist, dass die japanischen Produktionen mit Ausnahme von Kurosawas "Bilanz eines Lebens" im Gegensatz zu den US-Produktionen nie von einem zukünftigen Atomkrieg und dessen Folgen erzählen, sondern sich dem schweren Trauma des historischen Atombombenabwurfs auf Hiroshima und Nagasaki widmen, der wiederum im US-Kino kaum Raum findet.
Ausführlich wird auch Konstantin Lopuschanskis "Briefe eines Toten" (1986) als rarer sowjetischer Atomkriegsfilm gewürdigt. Zweifelhaft scheint dagegen, ob Andrej Tarkowskijs letzter Film "Opfer" (1986) in dieses Buch passt, wird die dortige Katastrophe doch nie genau benannt und könnte auch ein Reaktorunfall sein.
Bei den deutschen Produktionen blickt Niasseri vor allem auf die Pausewang-Verfilmung "Die Wolke" (2006) sowie die dystopischen Thriller von Rainer Erler, die für den Autor groß gedacht, aber unterproduziert sind, aber dennoch im deutschen Film eine Ausnahme darstellen.
Nicht fehlen darf freilich Christopher Nolans "Oppenheimer", aber auch in geplante Filmprojekte wie Denis Villeneuves Verfilmung von Annie Jacobsens Atomkriegsvision "72 Minuten bis zur Vernichtung", bei dem Niasseri auch wieder ein Gespräch mit der Autorin einbaut, sowie James Camerons Verfilmung von "To Hell and Back: The Last Train to Hiroshima" wird abschließend Einblick geboten.
So bietet das flüssig geschriebene und nicht üppig, aber ausreichend und gut bebilderte Buch, das durch ein Literaturverzeichnis, sowie Register zu Personen und Filmen abgerundet wird, einen ebenso spannenden wie umfangreichen und informativen Überblick über die Geschichte des Atombombenkinos. Gleichzeitig macht Niasseri aber auch durch die Verbindung von filmischer Fiktion mit realem politisch-historischem Hintergrund die immer noch drohende und wieder wachsende berechtigte Angst vor einem Atomkrieg und dessen Folgen beklemmend bewusst. Schade ist nur, dass auf ein chronologisch geordnetes und mit den wichtigsten Credits versehenes Verzeichnis der vorgestellten Filme verzichtet wurde.
Sassan Niasseri, DEFCON 1. Die Geschichte des Atombombenkinos, Schüren Verlag, Marburg 2025, 216 S., € 25, 978-3-7410-0496-4
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