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  • AutorenbildWalter Gasperi

Der Wolfsjunge - L´enfant sauvage


Um 1800 versucht ein Arzt einen über Jahre isoliert im Wald aufgewachsenen Jungen zu zivilisieren und zu bilden. - François Truffauts 1970 entstandener, meisterhafter Spielfilm über die menschliche Fähigkeit zur Entwicklung ist bei Pidax Film auf DVD erschienen.


Ein Insert informiert, dass es sich um eine wahre Geschichte handelt, die sich 1798 in Frankreich ereignete, ehe die Handlung mit einer Pilzsammlerin einsetzt. Bald blickt die Kamera von Nestor Almendros auf sie, bald übernimmt sie bei einem Geräusch im Wald ihren Blick, bis die Frau einen verwilderten nackten Jungen (Jean-Pierre Cargol) entdeckt und in Panik flüchtet.


Bald kehrt sie jedoch mit einigen bewaffneten Bauern mit Hunden zurück, die regelrecht Jagd auf den etwa Zwölfjährigen machen und ihn schließlich fassen. Wird er zunächst wie ein Tier in einem Gefängnis gehalten, so wird er in ein Gehörloseninstitut in Paris gebracht, als Doktor Itard (François Truffaut) darüber in der Zeitung liest.


Bald ist der Junge hier – nicht anders als David Lynchs "Der Elefantenmensch" – eine bestaunte Attraktion der vornehmen Pariser Gesellschaft, wird aber gleichzeitig von den anderen Jungen gequält. Zwei Meinungen treffen mit Professor Pinel (Jean Dasté), dem Leiter des Instituts, und dem Taubstummenlehrer Doktor Itard aufeinander: Während Pinel den Jungen für geistig behindert hält und keine Entwicklungsmöglichkeiten sieht, glaubt Itard, dass einzig die jahrelange Isolation zu diesem Zustand geführt habe und er durch Erziehung zu einem zivilisierten Menschen gemacht werden könne.


Nur der Prolog ist dies, denn im Zentrum steht ganz die sich anschließende Erziehung und Bildung durch Itard und dessen Haushälterin Madame Guérin (Françoise Seigner). So geduldig und fürsorglich Itard und Guérin arbeiten, so geduldig ist auch François Truffauts Erzählweise.


An die lichtdurchfluteten Wälder und Wiesen des Beginns tritt mit dem Erziehungsprozess das Haus. Der wiederkehrende Blick des Jungen, der schließlich den Namen Victor erhält, durchs Fenster auf die weite Landschaft vermittelt seine anfängliche Sehnsucht, doch gleichzeitig wird er langsam ans Tragen von Schuhen und Kleidung gewöhnt, werden Nägel und Haare geschnitten, lernt er das Essen mit Besteck und schließlich auch das Alphabet.


Truffaut, der auch selbst mit sichtlicher Hingabe Doktor Itard spielt, verherrlicht diese Zivilisierung nicht. Er zeigt nicht nur, wie Itard dabei mit einem System aus Belohnung und Bestrafung arbeitet und seinen Schützling teilweise wie den Pawlowschen Hund dressiert, sondern auch, wie Victor zunehmend seine animalischen Fähigkeiten verliert und nicht mehr in der Lage ist, in der Wildnis zu überleben. Doch gering wiegt dieser Verlust für Truffaut angesichts der Bildung und der – zumindest teilweisen – Fähigkeit zur Kommunikation, die der Junge erlangt und die ihn für Truffaut erst zu einem Menschen machen.


Sichtlich ein Herzensprojekt des Meisterregisseurs ist dies und zeigt durch die Widmung an den Schauspieler Jean-Pierre Leaud, den er mit seinem Debüt "Sie küssten und sie schlugen ihn" und den sich anschließenden weiteren Filme über Antoine Doinel zum Star machte, dass er sich auch als Regisseur in der Rolle des Lehrers sieht.


Von tiefer Menschlichkeit durchzogen ist "Der Wolfsjunge" so, aber gänzlich unsentimental durch die zurückhaltende Inszenierung. An Stummfilme erinnernde Kreisblenden, die den Film strukturieren, tragen ebenso zur Distanzierung bei wie die bestechend klaren Schwarzweißbilder, vor allem aber die tagebuchartigen Kommentare, die Itard im Voice-over zu seiner Vorgangsweise und seinen Absichten spricht und gleichzeitig niederschreibt.


Offen, aber doch hoffnungsvoll lässt Truffaut seinen Film enden, wenn eine Fortsetzung der Erziehung angekündigt wird. Gleichzeitig macht dieses Ende aber auch deutlich, dass Erziehung und Bildung nie abgeschlossene Prozesse sind, sondern dass immer daran weiter gearbeitet werden muss.


An Sprachversionen bietet die bei Pidax Film erschienene DVD die französische Original- und die deutsche Synchronfassung sowie deutsche Untertitel für Hörgeschädigte. Die Extras beschränken sich auf eine Trailershow und einen Nachdruck des anlässlich des Kinostarts 1971 erschienenen Programmhefts "Neues Filmprogramm".


Trailer zu "Der Wolfsjunge - L´enfant sauvage"

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