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  • AutorenbildWalter Gasperi

Streaming: Valley of Souls - Tantas Almas


Mit der Flussfahrt des alten José, der seine von den Paramilitärs verschleppten und ermordeten Söhne sucht, ruft Nicolás Rincón Gille in seinem leisen, aber bildstarken und suggestiven Spielfilmdebüt eindrücklich die Gräuel des 50 Jahre dauernden kolumbianischen Bürgerkriegs in Erinnerung. - Streaming bei mubi.com.


Von den 1960er Jahren bis 2016 tobte in Kolumbien ein Bürgerkrieg zwischen rechten Paramilitärs und linken Guerillas, in dem rund 200.000 Menschen, vorwiegend Zivilisten umkamen und Schätzungen zufolge 4,7 bis 5,7 Millionen Menschen Opfer von Vertreibungen wurden. Am 22. Juni 2016 wurde zwar von der kolumbianischen Regierung mit der größten Guerilla, der FARC, ein Waffenstillstand vereinbart, doch schon 2019 kündigte die FARC die Wiederbewaffnung an.


Mehrfach wurden die Schrecken dieses Krieges in den letzten Jahren filmisch aufgearbeitet: Ohne Kolumbien als Schauplatz zu nennen hat indirekt schon Alejandro Landes in "Monos" in furioser Bild- und Tonsprache das Publikum auf einen delirierenden Höllentrip in ein Bürgerkriegsgebiet geworfen, während die Brasilianerin Beatriz Seigner in "Los Silencios" mit den Mitteln des magischen Realismus eindrücklich von der Entwurzelung der vor dem bewaffneten Konflikt ins brasilianische Grenzgebiet Geflüchteten erzählte.


Von beiden Filmen unterscheidet sich das Spielfilmdebüt des Dokumentarfilmers Nicolás Rincón Gille grundlegend. Geradlinig und mit großer Ruhe entwickelt Gille die Handlung, stimmt schon mit den ersten langen Einstellungen von zwei Fischern, die auf ihrem Einbau nachts im Wasser treibendes Gehölz untersuchen, auf das Erzähltempo ein. Auf Filmmusik verzichtet der 47-jährige Regisseur ebenso wie auf große Dialoge, vertraut auf die Kraft von Natur- und Tiergeräuschen und die großartigen Breitwandbilder von Kameramann Juan C. Sarmiento Grisales.


Spürbar werden schon die Angst und der Terror, die in dieser Zeit in Kolumbien herrschen, wenn die beiden Fischer aus der Distanz Zeugen werden, wie Menschen von den Paramilitärs festgenommen und verschleppt werden. Als sich die beiden Fischer trennen, widerfährt dieses Schicksal bald auch dem Freund des alten José, doch nur über die Tonspur wird man Zeuge der Verhaftung. Gille, der seinen Film den Zeugen der Verschleppungen und Massaker gewidmet hat, deren Aussagen er für seine früheren Dokumentarfilme gesammelt hat, spart Gräuel aus und macht den Terror und die Angst gerade durch die Stille erfahrbar.


So findet auch José, als er zu seinem, in einer Bananenplantage gelegenen Haus zurückkehrt, weder Leichen noch Militärs, sondern nur seine Tochter Carmen, die ihm erzählt, dass ihre beiden Brüder verschleppt wurden. Im Einbaum macht sich José auf die Suche, findet bald den toten Rafael, stößt aber auch auf einen Deserteur und im Fluss treibende Leichen, die zu bergen verboten ist. Dennoch will José auch seinen zweiten Sohn finden und dessen Seele durch Bestattung Ruhe verschaffen.


Neben dem von José Arley de Jesús Carvallido Lobo zurückhaltend, aber mit großer Präsenz gespielte José werden so der durch Westkolumbien fließende, 1600 Kilometer lange Rio Magdalena und dessen Uferregion zu Hauptdarstellern. Kaum Menschen trifft er an, nur auf eine Frau stößt er in einer Siedlung und wie leergefegt wirkt eine Stadt, in der die Paramilitärs die Ausgangssperre kontrollieren. Während die wenigen Männer, auf die José trifft, aus Angst jede Hilfe verweigern oder aber nur als Täter präsent sind, zeigen die Frauen Solidarität und unterstützen ihn trotz der offensichtlichen Gefahr. Nicht nur in diesen Szenen, sondern mehr noch durch die vielfache Abwesenheit jeglicher menschlichen Präsenz evoziert diese Flussreise, die auch an Joseph Conrads "Im Herz der Finsternis" und Coppolas "Apocalypse Now" erinnert, dicht ein Klima der allgegenwärtigen Angst.


Über eine Stunde dauert es, bis José von Paramilitärs aufgegriffen und in ein Camp gebracht wird. In jeder Sekunde ist hier spürbar, wie wenig für diese Soldaten ein Menschenleben zählt und wie schnell hier abgedrückt wird. Auch der an Marlon Brandos Kurtz in "Apocalypse Now" erinnernde Kommandant, der zwischen Jovialität und Terror changiert, lässt José seine Macht spüren. Jederzeit muss hier José fürchten getötet zu werden, andererseits lässt diesen Sadisten seine Begeisterung für eine Tour de France-Etappe, bei der der Kolumbianer Santiago Botero triumphiert, wieder alles Militärische vergessen.


Durch diese TV-Übertragung lässt sich die Handlung auf den Sommer 2002 datieren, doch davon abgesehen verzichtet Gille bewusst auf jeden Hintergrund und jedes Umfeld. Konsequent aus der Perspektive von José erzählt er und lässt den Film in langen, ruhigen Einstellungen dahingleiten wie der Fluss, auf dem José seinen zweiten Sohn sucht. Nicht nur suggestiven Sog entwickelt "Valley of Souls", dessen Originaltitel "Tantas Almas – So viele Seelen" ungleich treffender ist, durch seinen bestechend kontrollierten Rhythmus und seine zurückhaltende, auf alles Spektakuläre verzichtende Inszenierung, sondern wird auch zum intensiven Roadmovie, das diese Gräuel des Bürgerkriegs und das Leid der Zivilbevölkerung gerade durch den Verzicht auf blutige Szenen eindringlich und lange nachwirkend in Erinnerung ruft.


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Trailer zu "Valley of Souls"



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