
Rungano Nyoni nützt einen Todesfall und die Vorbereitungen der Beerdigungsfeier, um ein vielschichtiges Bild der Gesellschaft Sambias zu zeichnen und die Verdrängung von Missbrauch anzuprangern: Ein starkes Sozialdrama, in dem auch komödiantisch-surreale Momente nicht fehlen.
Irritierend ist der Auftakt, wenn die junge Shula (Susan Chardy) bei ihrer Fahrt auf einer nächtlichen Landstraße eine silbrige Gesichtsmaske trägt. Plötzlich verlangsamt sie das Tempo, bleibt stehen und steigt aus. Das aufgeplusterte schwarze Marshmallow-Kostüm verstärkt den irritierenden Eindruck, wird aber mit dem Besuch einer Masken-Party erklärt. Seltsam ist aber auch, wie teilnahmslos sie auf den tot auf der Straße liegenden Onkel Fred reagiert.
Emotionslos steigt sie wieder ins Auto, ruft ihren Vater an, der sie aber vor allem um Geld anbettelt, bis zufällig auch noch eine betrunkene Cousine vorbeikommt. Auch diese lacht nur über den toten Onkel, ruft aber die Polizei an, die erklärt, dass sie erst am nächsten Morgen vorbeikommen könne, da kein Einsatzwagen frei sei.
Nicht nur ziemlich absurd, sondern auch ziemlich großartig ist diese Eröffnungsszene, die wie der ganze Film, der zu einem großen Teil während eines Blackouts spielt, von Kameramann Daniel Gallego ("El abrazo de la serpiente", "Birds of Passage") in bestechend-scharfen, farbintensiven Nachtbildern gefilmt ist.
Ausgehend von diesem Todesfall fokussiert die in Sambia geborene und in Wales aufgewachsene Rungano Nyoni in ihrem nach "I Am Not a Witch" zweiten Spielfilm auf den Vorbereitungen des Begräbnisses. Wie beispielsweise in Robert Altmans "Eine Hochzeit" oder in Thomas Vinterbergs "Das Fest - Festen" nützt auch Nyoni ein Familientreffen, um Geheimnisse aufzudecken, aber auch um traditionelle gesellschaftliche Strukturen zu durchleuchten.
Im Zentrum steht dabei Shula, die die Vorbereitungen für die Feier, die im Haus ihrer Mutter stattfinden soll, leitet. Spätestens wenn sie eine Cousine im Krankenhaus abholen muss, bekommt das Bild des toten Onkels Risse, denn diese spricht den Missbrauch durch den Onkel an, der von den anderen Familienmitgliedern lieber verschwiegen wird.
Auch andere Familienmitglieder waren davon betroffen, haben aber aus Scham lieber darüber geschwiegen oder nur ihren Müttern davon erzählt. Letztere wollen aber, dass das Bild des Onkels bzw. ihres Bruders auch nach dem Tod keine Kratzer bekommt und so muss Shula eine Todesanzeige aufgeben, die den Verstorbenen als großartigen Menschen darstellt.
Schrittweise weitet die 43-jährige Regisseurin in ihrem sehr klug aufgebauten Film, der beim Zurich Film Festival als bester Spielfilm und in Cannes in der Sektion "Un certain regard" mit dem Regiepreis ausgezeichnet wurde, das Bild und mischt ins Sozialdrama leichthändig komödiantisch-surreale Momente. Prägnant wird dabei den älteren weiblichen Familienmitgliedern, für die Familientraditionen und Familienehre an oberster Stelle stehen, die jüngere Generation, die das Schweigen über ihre persönlichen traumatischen Erfahrungen endlich brechen will, gegenübergestellt.
Treten die älteren Frauen gegenüber der jüngeren Generation dabei dominant auf, so scheinen sie gegenüber den Männern doch wieder in untergeordneter Position zu sein. Denn während die Frauen in der Küche stehen und die Speisen zubereiten, sitzen die Männer im Garten, äußern ihre Wünsche und lassen sich bedienen.
Dazu kommt das Verhältnis der Familie zur Witwe des Verstorbenen. In dieser wird nämlich bald eine Konkurrentin um das Erbe gesehen und ihr wird vorgeworfen, dass Onkel Fred nur gestorben sei, weil sie sich zu wenig um ihn gekümmert habe.
Geschickt baut Nyoni in die Erzählung auch eine TV-Sendung über Tiere, darunter das titelgebende Perlhuhn, ein, die Shula als Kind gesehen hat. Wird diese Sendung am Beginn nur kurz angeschnitten und etwa in der Mitte des Films in einem Traum wieder aufgenommen, so wird am Ende aufgeklärt, was es mit diesem Perlhuhn auf sich hat.
Konsequent aus der Perspektive Shulas, die von Susan Chardy gerade durch ihre Zurückhaltung eindrücklich gespielt wird, erzählt Nyoni. In jeder Szene ist sie präsent und so bekommt man mit ihren Begegnungen und Erfahrungen zunehmend tieferen und vielschichtigeren Einblick in die gesellschaftlichen und familiären Strukturen.
Wenn Shula, die lange Zeit eine scheinbar teilnahmslose Beobachterin bleibt, sich am Ende das Verhalten des Perlhuhns zum Vorbild nimmt, dann wird "On Becoming a Guinea Fowl" auch zu einem starken Plädoyer für ein Aufbegehren gegen die Vertuschung von Missbrauch und gegen die Benachteiligung der Schwachen.
On Becoming a Guinea Fowl
Großbritannien / Sambia / Irland / USA 2024 Regie: Rungano Nyoni mit: Susan Chardy, Elizabeth Chisela, Blessings Bhamjee, Doris Naulapwa, Mary Mulabo Länge: 99 min.
Läuft derzeit in den Schweizer Kinos, z.B. im Kinok St. Gallen.
Trailer zu "On Becoming a Guinea Fowl"
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