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  • AutorenbildWalter Gasperi

Memoria


In seinem in Kolumbien entstandenen Spielfilm schickt der Thailänder Apichatpong Weerasethakul Tilda Swinton auf die Suche nach einem Geräusch, das ihr den Schlaf raubt: Meditatives Kino über Träume, Erinnerung und die Subjektivität der Wahrnehmung, das mit seinen langen Einstellungen und einer brillanten Tonspur sehen und hören lehren kann.


Ob in seinem 2010 in Cannes mit der Goldenen Palme ausgezeichneten "Uncle Bonmee erinnert sich an seine früheren Leben" oder in "Cemetery of Splendour" (2015) – immer wieder geht es in den Filmen des Thailänders Apichatpong Weerasethakul um Erinnerungen und Träume, um Schlaf und Wachzustand und das Verschwimmen der Grenzen.


Mit ihren langen statischen Einstellungen entwickeln diese Filme dabei selbst eine traumhafte Qualität, lassen eintauchen in diesen Schwebezustand und entwickeln – sofern man sich auf den sehr langsamen Erzählrhythmus einlässt – einen suggestiven Sog. Spielte ins bisherige Werk Weerasethakuls aber auch immer wieder die thailändische Geschichte hinein, so drehte er "Memoria" in Kolumbien. Dass es dabei freilich wiederum um Erinnerungen geht, macht schon der Titel deutlich.


Eine lange statische Halbtotale eines in Halbdunkel getauchten Schlafzimmers stimmt schon auf den langsamen Erzählrhythmus ein. Abrupt wird die Stille durch einen heftigen Knall unterbrochen, der die Botanikerin Jessica Holland (Tilda Swinton) aus dem Schlaf hochschrecken lässt. Mit dem Namen dieser Protagonistin verweist Weerasethakul auf Jacques Tourneurs klassischen Geisterfilm "I Walked With a Zombie", in dem eine Jessica Holland auf den westindischen Inseln in Trance verfällt und durch ein Voodoo-Ritual geheilt werden soll.


Wie Tourneurs Film bewegt sich auch der von Weerasethakul zwischen Traum und Realität. Alles scheint zwar real und doch bricht einerseits immer wieder Irreales in die Realität ein, andererseits scheint die Wahrnehmung immer wieder zu trügen. Unerklärlich bleibt so beispielsweise, wieso unmittelbar nach der Auftaktszene die Alarmanlagen von Autos, die auf einem Parkplatz abgestellt wurden, verrückt spielen und ein kakophones Konzert aus Tönen und Blinklichtern verursachen.


Ins Nichts führt auch der Versuch den frühmorgendlichen Knall mit einer nahen Baustelle zu erklären, denn Jessica muss erfahren, dass es keine Baustelle gibt. So sucht sie einen Toningenieur (Juan Pablo Urrego) auf, mit dem sie dem Geräusch, das ihr den Schlaf raubt und das sie immer wieder in unterschiedlichsten Situationen ganz plötzlich aufschrecken lässt, auf den Grund gehen will. Ausführlich beschreibt sie das Geräusch und der Toningenieur rekonstruiert es auch, doch weiter führt auch dies letztlich nicht.


Wie dieses Geräusch eine rein subjektive Wahrnehmung Jessicas ist, stellen sich aber bald auch Zweifel an der Echtheit ihrer Erfahrungen ein. Da erzählt ihr beispielsweise ihre Schwester (Agnes Brekke), die sie im Krankenhaus besucht, von einem Hund, will später aber nichts mehr von dieser Geschichte wissen. Und als sie wieder ins Studio kommt, um den Toningenieur zu besuchen, kennt niemand diesen.


Gleichzeitig lernt sie aber die Archäologin Agnès (Jeanne Balibar) kennen, die 6000 Jahre alte Funde menschlicher Knochen, die ein Tunnelbau zu Tage förderte, untersucht. Der persönlichen Erinnerung wird damit die Erforschung der Geschichte mit wissenschaftlichen Fundstücken gegenübergestellt. Um sich näher mit diesen zu beschäftigen, reist Jessica zur Ausgrabungsstätte, wo sie auf einen einfachen Fischer trifft.


Nicht nur von der verbauten Stadt in die wild wuchernde Natur bewegt sich "Memoria" damit, sondern auch von einer wissenschaftlich-nüchternen Welt hin zu einem einfachen Leben, in dem auch noch Magisches Platz hat. Gleichzeitig spielt mit Militärkontrollen während der Fahrt aufs Land aber auch kolumbianische Realität herein.


Mehr noch als bei Filmen generell ist bei den Filmen Weerasethakuls eine Nacherzählung zum Scheitern verurteilt. Denn die äußere Handlung ist nur ein Bruchteil des Films, mindestens gleich wichtig ist, wie erzählt wird.


Einfach sind im Grunde die meist statischen Einstellungen, entwickeln aber durch die sorgfältige Kadrierung und vor allem durch die Dehnung suggestive Kraft. Nicht weniger wichtig als die Bildsprache ist aber die Tonspur. Indem der Thailänder hier immer wieder zwischen Momenten völliger Stille und markanten Geräuschen wechselt, lehrt er die Zuschauer*innen förmlich das Hören. Intensiv nimmt man so nicht nur den Jessica beunruhigenden Knall wahr, sondern auch die Geräusche im Tonstudio oder einen heftigen Wolkenbruch.


Getragen wird dieser Film dabei von der famosen Tilda Swinton, die Weerasethakul schon 2004 kennenlernte und mit der er seither zusammenarbeiten wollte. Viel verlangt "Memoria" mit seinen endlos langen Einstellungen der Schottin ab, doch mit ihrem zurückhaltenden, aber konzentrierten Spiel trägt sie nicht unwesentlich zur Rätselhaftigkeit und stillen Intensität dieses meditativen Filmgedichts bei.


Memoria Kolumbien / Frankreich / Thailand / Deutschland / Mexiko / Quatar 2021 Regie: Apichatpong Weerasethakul mit: Tilda Swinton, Agnes Brekke, Daniel Giménez Cacho, Juan Pablo Urrego, Elkin Díaz, Jeanne Balibar, Constanza Gutierrez Länge: 136 min.



Läuft derzeit in den österreichischen, deutschen und Schweizer Kinos, z.B. im Kinok St. Gallen


Trailer zu "Memoria"



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