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  • AutorenbildWalter Gasperi

May December

Julianne Moore und Natalie Portman brillieren in Todd Haynes´ Psychodrama, in dem eine Schauspielerin als Vorbereitung für eine Rolle eine Mittfünfzigerin besucht, die vor 20 Jahren eine skandalöse Beziehung mit einem 13-Jährigen hatte, mit dem sie nun immer noch zusammenlebt: Ein faszinierendes Spiel um Schein und Sein, um Abhängigkeit und Ausbeutung - und mit den Klischees und Erzählweisen von Soap-Operas.


Mit "May December" werden im Englischen umgangssprachlich Partnerschaften mit großen Altersunterschieden bezeichnet. Mai steht dabei für den Menschen im Frühling seines Lebens, Dezember für den Partner im fortgeschrittenen Alter. Angelehnt an die Beziehung zwischen der Lehrerin Mary Kay Letourneau und einem zwölfjährigen Schüler bildet so die fiktive Beziehung zwischen der verheirateten 36-jährigen Gracie und dem 13-jährigen Joe, die in den frühen 1990er Jahren nicht nur für einen Skandal sorgte, sondern Gracie auch vorübergehend ins Gefängnis brachte, wo sie ein Kind gebar, den Hintergrund von "May December".


Rund 20 Jahre später besucht die Schauspielerin Elizabeth (Natalie Portman), die in einem Independent-Film Gracie spielen soll, die inzwischen etwa 55-Jährige (Julianne Moore) in ihrer Villa in Savannah, Georgia. Dort lebt sie immer noch mit Joe (Charles Melton), mit dem sie auch drei, inzwischen fast erwachsene Kinder hat.


Scheint Gracies Welt bei der ersten Begegnung heil, so werden im Laufe der wenigen Tage, über die sich die Handlung erstreckt, doch zunehmend Risse hinter der Oberfläche sichtbar. Leichthändig baut Todd Haynes dabei auch ein feinmaschiges Netz auf, wenn er Elizabeth nicht nur Gracie und Joe, sondern auch deren Ex-Mann und ihren Sohn aus dieser Ehe sowie ihren damaligen Anwalt befragen lässt.


Während Gracie immer angibt, dass Joe sie damals verführt habe, lässt dieser zunehmend daran Zweifel aufkommen, aber auch das Gerücht, dass ihr Verhalten aus früherem sexuellem Missbrauch durch ihre Brüder resultiere, wird gestreut.


Klassischen Soap-Opera-Stoff bietet Haynes hier, mit dem er freilich durch Übersteigerung, vor allem auch über den Soundtrack sehr ironisch spielt. Denn mit aufbrausender Musik bauschen der Amerikaner und sein Komponist Marcelo Zavros, der teilweise die Filmmusik von Michel Legrand für Joseph Loseys "The Go-Between – Der Mittler" (1971) verwendet, immer wieder an sich banale Szenen so auf, dass sie ins Lächerliche kippen.


So dient Haynes die Soap-Ebene in erster Linie als Oberfläche. Denn ganz im Gegenteil zu diesen Serien verzichtet er auf alle Gewissheiten und überlässt den Zuschauer:innen die Beurteilung der Figuren. Geschickt setzt er dabei immer wieder Zeichen, durch die das Bild komplexer und ambivalenter wird. Da tritt nämlich Gracie zunächst als souveräne und scheinbar allseits beliebte Frau auf, doch spätestens, wenn ein Paket mit Scheiße eintrifft oder der Anwalt erklärt, dass die Nachbarn nur aus Gefälligkeit ständig bei ihr Blaubeerkuchen bestellen, wird klar, dass diese Beliebtheit nur Schein ist.


Aber auch ihr Verhältnis zu Joe scheint nicht ungetrübt, sondern dominant, wenn sie ihm ständig Anweisungen gibt. Risse zeigt aber bald auch die Beziehung zu ihren Töchtern, wenn sie ihnen implizit mehrfach vorwirft, dass sie dick sind.


Aber auch Joe spielt den glücklichen Ehemann mehr als er es ist, wenn SMS auf eine heimliche Affäre verweisen und er mehrfach immer noch als Kind erscheint, das durch die frühe Beziehung nie richtig erwachsen wurde und selbstständig zu entscheiden lernte.


Im Zentrum steht aber die Beziehung zwischen Gracie und Elizabeth. Wenn Haynes hier immer wieder mit Spiegeln spielt und die beiden Gesichter einander angleicht, dann wirft er auch Fragen nach wahrer Persönlichkeit und Rolle auf. Auch ihre Beziehung bleibt dabei in der Schwebe, wenn Elizabeth einerseits Gracie auszuhorchen versucht und sich in Spielszenen ganz in sie schon hineinversetzt, andererseits dann von Gracie doch wieder eiskalt darüber aufgeklärt wird, dass sie wohl ein ganz falsches Bild von ihr habe.


Ein großes Vergnügen ist es Portman und Moore zuzuschauen, wie facettenreich und im Kern nie ganz greifbar sie diese beiden Frauen spielen. Immer neue Schichten dieser Charaktere fördern sie zutage und bis zum Ende bleibt offen, wer hier eigentlich mit wem spielt und wer wen ausbeutet.


Auf Rückblenden zum einstigen Skandal kann Haynes dabei getrost verzichten. Nur mit einigen Zeitungsschlagzeilen werden die damaligen Ereignisse angedeutet. Der Fokus liegt ganz auf den wenigen Tagen des Besuchs von Elizabeth, wobei diese in die Highschool-Abschlussfeier für die beiden Zwillinge von Gracie und Joe münden.


Mit diesem neuen Freiraum, den das Paar durch den Auszug der Kinder gewinnt, stellt sich speziell für Joe auch die Frage, ob er doch noch einen Neubeginn in seinem Leben wagen soll. – Aber auch auf diese Frage verweigert Haynes eine Antwort.


Mit dieser schillernden Offenheit sorgt er freilich dafür, dass dieses Psychodrama, das man schon mit Ingmar Bergmans "Persona" verglichen hat, mit Filmende kaum ad acta gelegt werden kann, sondern in den Köpfen der Zuschauer:innen weiterarbeitet.

 

 

May December

USA 2023

Regie: Todd Haynes

mit: Natalie Portman, Julianne Moore, Chris Tenzis, Charles Melton, Andrea Frankle, Gabriel Chung, Mikenzie Taylor, Jocelyn Shelfo, Elizabeth Yu, Mike Lopez

Länge: 117 min.



Läuft derzeit in den Schweizer Kinos, z.B. im Kinok St. Gallen und im Skino Schaan.


Trailer zu "May December"




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