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  • AutorenbildWalter Gasperi

Martin Eden


Pietro Marcello verlegt Jack Londons 1909 erschienenen autobiographischen Roman von San Francisco ins Neapel eines nicht näher bestimmten 20. Jahrhunderts und erzählt in furioser Inszenierung von einem Seemann, der durch Bildung in die gehobene Gesellschaft aufsteigen will, von Klassengegensätzen, Sozialismus und Individualismus. – Ein kühner, von allen Konventionen befreiter Film.


Mit einer biederen Literaturverfilmung hat der erste Spielfilm des italienischen Dokumentarfilmers Pietro Marcello nichts gemein. Schon die erste Szene, in der Martin Eden (Luca Marinell) auf ein Tonband über die Kraft der Wörter spricht, entwickelt enorme Intensität und zieht in den Film hinein. Abrupt wird dieser Auftakt von schwarzweißen Archivaufnahmen von Demonstrationen an einem 1. Mai wohl zu Beginn des 20. Jahrhunderts abgelöst.


In diesem befreiten Umgang mit filmischen Mitteln erweckt „Martin Eden“ das Gefühl, als ob Marcello das Kino neu erfinden will. Und Marcello, der zusammen mit Maurizio Braucci auch das Drehbuch schrieb, zieht diese befreite Erzählweise auch konsequent durch.


Es gibt zwar eine klare Handlungsführung, wenn sich der Seemann Martin in die aus gehobenem Haus stammende Elena (Jessica Cressy) verliebt und, um ihr Herz zu erobern, zunächst alles von Baudelaire bis zu Herbert Spencer (1820 – 1903), einem Vorläufer des Sozialdarwinismus, zu lesen, dann selbst zu schreiben beginnt und schließlich zum erfolgreichen Schriftsteller aufsteigt, doch die Narration bricht Marcello in seinem teils auf 16mm, teils auf Super 16mm und teils auch auf 35mm-Material gedrehten Film immer wieder auf.


So unterbrechen immer wieder teils schwarzweißes, teils farbiges Archivmaterial, aber auch selbst gedrehte Szenen die Handlung. Neben Bildern eines Windjammers auf hoher See, einer Trümmerlandschaft, die an die unmittelbare Nachkriegszeit erinnert, und einer Bücherverbrennung gibt es hier auch Momente, die Erinnerungen Martins an seine Kindheit zu sein scheinen, wie beispielsweise Szenen mit einem armen Kind in Neapel.


Während die Ausstattung mit Autos, Schreibmaschine und Kleidung teils den Eindruck erweckt, dass diese freie Verfilmung von Jack Londons 1909 erschienenem autobiographischen Roman in den 1950er oder 1960er Jahren spielt, erinnert das Ambiente von Elenas vornehmem Elternhaus eher ans 19. Jahrhundert. Und im Archivmaterial wird schließlich quasi das ganze 20. Jahrhundert verschmolzen, weckt Manches Assoziationen an den aufkommenden Faschismus, anderes an die unmittelbare Nachkriegszeit und in der Demonstration am Beginn sieht man den Anarchisten Errico Malatesta (1853 – 1932).


Gleichzeitig historisch verankert und zeitlos wirkt „Martin Eden“ durch diese Vermischung und verleiht den verhandelten Themen ebenso Zeitlosigkeit wie durch die Verankerung in Neapel, das aber gleichzeitig eine andere Stadt sein könnte, Universalität. Aber nicht nur mit Ausstattung und Archivmaterial bricht Marcello, dessen Film in seiner reichen filmischen Textur und befreiten Erzählweise Parallelen zu Dominik Grafs famosem „Fabian oder der Gang vor die Hunde“ aufweist, mit den Konventionen. Denn der 45-jährige Italiener wechselt auch zwischen nah geführter unruhiger Handkamera und ruhigen Totalen, durchbricht die vierte Wand, wenn er Elena vor neutralem blauen Hintergrund direkt ans Publikum einen Brief an Martin rezitieren lässt, und pendelt im variantenreichen Musikeinsatz zwischen italienischen Schlagern, die Emotionen schüren, und klassischer Musik.


Kongenial korrespondiert diese befreite Erzählweise mit dem Freiheitsstreben der Titelfigur, die trotz ihres Aufstiegs durch den schriftstellerischen Erfolg nie Teil der Oberschicht wird, sondern seine Individualität bewahrt, aber sich auch von der sozialistischen Bewegung distanziert und speziell mit den Gewerkschaften mehrfach scharf abrechnet. Gleichzeitig verliert er mit seinem Aufstieg aber auch den Bezug zu seinen Wurzeln und steht zunehmend isoliert da.


Erinnert dieser Aufstieg Martins durch Bildung an „Padre Padrone“ der Taviani-Brüder, so wird gleichzeitig mit der Schulbildung abgerechnet, wenn er bei einer Geschichte-Prüfung, bei der er sehr reflektiert über Grundkomponenten der altrömischen Geschichte reflektiert, durchfällt, weil er gewisse Fakten nicht weiß. Mit dieser Bildungsgeschichte fließt aber auch die eigene Geschichte von Regisseur Marcello ein, der als Sohn eines neapolitanisches Seemanns zunächst ohne Bücher aufwuchs, dann aber die Literatur entdeckte und ein leidenschaftlicher Leser wurde.


Nur eines von vielen Themen ist die Rolle der Bildung aber, denn gleichzeitig geht es auch um Klassengegensätze, um Sozialismus und Arbeitskampf, um Ausbeutung der Arbeiter und das Verhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft, während über die Archivebene an die Verwerfungen des 20. Jahrhunderts erinnert wird. Viel packt Marcello hinein, doch im skizzen- oder freskohaften Stil, bei dem nichts breit ausformuliert wird, wirkt das nie überladen, sondern reich und voll.


Dass Marcellos Konzept funktioniert, liegt ganz entscheidend auch an seiner starken Hauptfigur und deren Verkörperung durch Luca Marinelli. Er spielt diesen Martin Eden, der sich auch vom Erfolg nicht korrumpieren lässt, sondern so entschlossen oder auch verbohrt seinen Weg geht, dass dieser ins völlige Abseits führt, mit einer physischen Präsenz und einer Leidenschaft, die mitreißen und dafür sorgen, dass diese Figur und dieser Film haften bleiben.


Läuft derzeit im Rahmen des TaSKino im Feldkircher Kino Rio und am 23.9. um 20 Uhr im Rahmen des Filmforum Bregenz im Metrokino Bregenz


Trailer zu "Martin Eden"


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