Oliver Hermanus verlegt Akira Kurosawas Meisterwerk "Ikiru – Einmal wirklich leben", in dem ein im Leben erstarrter Beamter angesichts einer tödlichen Krankheit versucht, seinem Dasein einen Sinn zu geben, ins England der frühen 1950er Jahre: Ein feinfühliges, tief bewegendes Drama, das einem überragenden Bill Nighby die Rolle seines Lebens bietet.
Es ist schon ziemlich mutig, um nicht zu sagen verwegen von einem Klassiker wie Akira Kurosawas 1952 entstandenem Meisterwerk "Ikiru – Einmal wirklich leben" ein Remake zu drehen. Groß ist hier die Gefahr zu scheitern, denn immer muss man sich an der Vorlage messen lassen. Doch dem japanischstämmigen britischen Literatur-Nobelpreisträger Kazuo Ishiguro und dem südafrikanischen Regisseur Oliver Hermanus ("Moffie") gelang ein zutiefst bewegendes humanistisches Drama, das sich nicht hinter dem Original verstecken muss.
Auf Modernisierungen verzichten Ishiguro, der schon viele Jahre diese Neuverfilmung ins Auge fasste, und Hermanus. Sie verlegen die Handlung zwar vom Nachkriegsjapan ins England der frühen 1950er Jahre, halten sich sonst aber ziemlich genau an Kurosawas Film. So spielt "Living" nicht nur in den 1950er Jahren, sondern sieht in seiner klassischen Erzählweise auch wie ein Film aus dieser Zeit aus – und wirkt dennoch nie verstaubt.
Grobkörnige Bilder und verwaschene Farben vom Londoner Verkehrstrubel versetzen ebenso in diese Zeit wie das klassische 4:3 Format. Gleichzeitig sperrt das enge Bild auch die Protagonist:innen förmlich in ihrem Leben ein. In Kontrast zu den roten Doppeldeckern der ersten Bilder stehen die dunklen Anzüge und die Steifheit der Beamten, die morgens mit dem Zug in die Metropole fahren. Ein Neuling ist der junge Peter Wakeling (Alex Sharp), der gleich an seinem ersten Arbeitstag erfährt, dass Humor hier nicht gefragt ist.
Geschickt wird der Auftritt von Mr. Williams (Bill Nighby), der die Bauabteilung in der London County Hall leitet, hinausgezögert, indem er erst bei der nächsten Station einsteigt. Er übertrifft an Steifheit noch seine Mitarbeiter, agiert wie ein lebender Toter. Auch im Büro herrscht diese Beziehungslosigkeit: Kaum einer redet mit dem anderen, jeder verkriecht sich hinter seinen Akten, die im Grunde doch nicht bearbeitet, sondern nur herumgeschoben werden.
Wenig Interesse zeigt Mr. Williams auch am Ansuchen mehrerer Frauen für die Errichtung eines Kinderspielplatzes in einem desolaten Londoner Viertel. Lieber schickt er die Frauen von einer Abteilung zur nächsten und schubladisiert, als sie wieder zurückgeschickt werden, ihren Antrag. Mit den Augen von Wakeling bekommen die Zuschauer:innen Einblick nicht nur in die allzu bekannten Mechanismen einer untätigen Bürokratie, sondern auch in diesen monotonen und emotionslosen Büroalltag, dessen Tristesse durch die dunklen Farben betont wird. Einzig die junge Angestellte Miss Harris (Aimee Lou Wood) sticht hier mit ihren bunten Blusen heraus. Doch sie plant auch schon einen Jobwechsel.
Intensiviert wird die bedrückende Stimmung auch durch das kalte weiße Licht und die geringe Schärfentiefe. Diese taucht aber nicht nur immer wieder die Räume und das Dekor in Unschärfe, sondern lenkt damit auch den Blick auf die Menschen im Vordergrund. So wird mit dieser Fokussierung auf den Menschen der humanistische Gehalt des Films, dass der Mensch und nicht sein materielles Umfeld zähle, auch durch die Filmsprache unterstützt.
Aber dann erhält Mr. Williams vom Arzt die Diagnose, dass er an Krebs im Endstadium leide und nur noch sechs, maximal neun Monate zu leben habe. Versteinert sitzt der Mann zuhause im Dunkeln, will seinem Sohn und seiner Schwiegertochter zwar von seiner Krankheit erzählen, doch schafft er es nicht. Der nahe Tod weckt nicht nur Erinnerungen an frühere Zeiten, die in ganz kurzen, teils schwarzweißen bruchstückhaften Rückblenden angerissen werden, sondern lassen Mr. Williams auch darüber nachdenken, was er in der verbleibenden Zeit noch machen soll.
Selbstmordgedanken kommen auf, dann stürzt er sich in einem Küstenstädtchen mit einem trinkfreudigen Schriftsteller ins Nachtleben mit Alkohol, Spielsalons und Nachtclubs. Wirklich aufblühen lassen ihn aber erst mehrere Begegnungen mit der jungen und lebensfrohen Ex-Mitarbeiterin Miss Harris, durch die er sich auch an ein Projekt erinnert, für das er zu kämpfen beginnt.
Die Schwere der Krankheit und die Schmerzen vermitteln nur wenige kurze Szenen, abrupt bricht "Living" nämlich ab und auf den Blick auf Mr. Williams, folgen die Erinnerungen anderer Menschen an diesen Beamten, der immer nur ein Gentleman sein wollte.
Dominiert wird dieses wehmütige Drama, das der erstarrten Gesellschaft Menschlichkeit und Lebensfreude gegenüberstellt, von einem überragenden Bill Nighby in der Hauptrolle. Die Stärke liegt dabei gerade in der Zurückhaltung seines Spiels. In jeder Szene lässt er so unter der stoischen Oberfläche die innere Erschütterung und Trauer von Mr. Williams spüren und bewegend macht er mit seiner sanften Stimme und seinem Blick dessen Trauer über die innere Erstarrung und dessen Sehnsucht spürbar, dem monotonen Leben noch einen Sinn zu geben. Zu Tränen rühren kann da nicht nur, wenn er das alte schottische Lied "The Rowan Tree – Die Eberesche" anstimmt.
Nah an Kitsch und Rührseligkeit ist das, doch durch die ebenso zurückhaltende wie feinfühlige Inszenierung und Momente sanften Humors entgeht Hermanus dieser Gefahr und schafft wie vor mehr als 70 Jahren Akira Kurosawa ein berührendes Drama nicht nur über den Sinn des Lebens, sondern auch über die Bedeutung der kleinen Taten eines einzelnen Individuums.
Illusionen, dass die Tat von Mr. Williams die verkrustete Bürokratie verändern wird, macht "Living" dabei aber nicht: Da mag der Nachfolger zwar erklären, dass ihnen diese Tat als Beispiel dienen solle, doch die Anträge landen bald wieder wie einst in der Ablage.
Living – Einmal wirklich leben Großbritannien 2022 Regie: Charlotte Wells mit: Bill Nighy, Aimee Lou Wood, Alex Sharp, Tom Burke, Adrian Rawlins Länge: 103 min.
Filmkulturclub Dornbirn im Cinema Dornbirn: Mittwoch, 23.8., 18 Uhr und Donnerstag, 24.8., 19.30 Uhr
LeinwandLounge in der Remise Bludenz: Mittwoch, 27.9., 19 Uhr
Trailer zu "Living - Einmal wirklich leben"
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