Am Schicksal einer Tänzerin erzählt die Algerierin Mounia Meddour nach ihrem Erstling "Papicha" wiederum mitreißend von weiblichen Freiheitsträumen und Lebensfreude, die auch durch eine männliche Gewalttat nicht gebrochen werden können: Hautnahes und fiebrig-intensives Kino mit einer herausragenden Lyna Khoudri in der Hauptrolle.
Während Mounia Meddours Debüt "Papicha", in dem auch schon Lyna Khoudri die Hauptrolle spielte, vor dem Hintergrund des islamischen Terrors im Algerien der 1990er Jahre spielte, ist "Houria" in der Gegenwart angesiedelt.
Hautnah ist die Kamera von Léo Levèvre an der jungen Tänzerin Houria (Lyna Khoudri) dran. In Großaufnahmen erfasst sie Füße und Kopf bei ihrem Training auf der Dachterrasse. Wie ihre Freundin Sonja (Hilda Amira Douaouda) ist sie zwar ausgebildete Sportlehrerin, doch ihr Geld verdienen die jungen Frauen als Zimmermädchen in einem Hotel. Während Houria, deren Name übersetzt "Freiheit" heißt, von einer Karriere als Balletttänzerin träumt, denkt Sonja an eine illegale Migration nach Spanien.
In kurzen Szenen zeigt Meddour die Freundinnen bei der Arbeit und bei den Proben von "Schwanensee". Eine unruhige Kamera und ein dynamischer Schnitt sorgen für ein hohes und gehetztes Tempo, während die Dominanz von Groß- und Nahaufnahmen die Zuschauer:innen förmlich in Geiselhaft nimmt. Kaum einmal gewinnt man einen Überblick oder gewährt eine Totale eine Atempause, sondern immer ist man unmittelbar in das Geschehen involviert.
Um sich das Geld für ein Auto zu verdienen, beteiligt sich Houria in einem verrufenen Viertel an Wetten bei Kämpfen von Schafsböcken. Als sich in dieser rauen Männerwelt, die in Opposition zur weiblich bestimmten Tanzszene steht, ein Mann um sein Geld betrogen fühlt, verfolgt er Houria. Als er sie einholt, verletzt er sie so schwer, dass sie nicht nur mit Knochenbrüchen, sondern auch mit posttraumatischem Mutismus im Krankenhaus aufwacht.
Wie in "Papicha" das Leben einer jungen Modestudentin durch einen Terroranschlag schwer erschüttert wurde, sie aber trotz dieser traumatischen Erfahrung und des repressiven gesellschaftlichen Klimas an ihrem Traum von einer Modenschau festhielt, so kämpft sich auch Houria nach anfänglicher Niedergeschlagenheit ins Leben zurück.
Als sie nämlich in der Rehabilitationsgruppe Frauen kennenlernt, die immer noch vom Terror der 1990er Jahre traumatisiert sind, erkennt sie, dass ihr Schicksal kein Einzelfall ist. Die Stummheit Hourias und der anderen Frauen ist dabei für Mounia Meddour auch ein Symbol für die Situation jener Frauen, die "man verjagt, beiseite gedrängt, erstickt, gedemütigt und zum Schweigen gebracht hat".
Gleichzeitig erkennt Houria aber auch, dass der Mann, der sie überfallen hat, trotz Anzeige nur kurz verhaftet wurde, weil Terroristen 2006 Amnestie gewährt wurde. Die Wut über die Tatenlosigkeit der Behörden, die neuerliche Bedrohung durch den Mann, der sie überfallen hat und das bei der Wette verlorene Geld zurückbekommen will, steigern aber nur Hourias Entschlossenheit. Mit den anderen Mitgliedern der Rehabilitationsgruppe studiert sie so einen Tanz ein, in dem sich die Befindlichkeit dieser Frauen und auch ihre Sehnsucht nach befreitem Leben spiegeln.
Mit der Entwicklung von Ballett zu modernem Ausdruckstanz, in dem Houria die Gebärdensprache tänzerisch einsetzt, korrespondiert so eine Bewegung von einer der Gesellschaft enthobenen zu einer gesellschaftlich relevanten Kunst. Wie hier immer wieder das repressive gesellschaftliche Klima mit männlicher Macht und untätigen Behörden auf der einen Seite und die Sehnsüchte der beiden jungen Protagonistinnen auf der anderen Seite aufeinanderprallen, macht intensiv das Spannungsfeld, in dem Houria und Sonja leben, erfahrbar.
Gesteigert wird das Gefühl für dieses lustvolle Leben mehrfach durch Songs wie "Felicitá" von Al Bano & Romina Power oder "Gloria" von Umberto Tozzi. Abrupt wird aber diese Lebenslust und Leidenschaftlichkeit immer wieder durch bedrückende Momente gebrochen.
Geweitet wird das Bild noch durch eine Flüchtlingsgeschichte, die Meddour um Sonja entwickelt. In der dichten Folge von kurzen Szenen, in denen vieles nur knapp angeschnitten wird und Hintergründe ausgespart bleiben, entwickelt das kraftvolle Drama so großen Drive und packt auch durch das mitreißende Spiel von Lyna Khoudri.
In ihrem Kampf zurück ins Leben, in ihrem Lebenshunger und auch in ihrem Kampf gegen die Macht der Männer spiegelt sich dabei wohl das Aufbegehren einer ganzen Generation junger Algerierinnen.
Houria Frankreich / Belgien / Algerien2022 Regie: Mounia Meddour mit: Lyna Khoudri, Rachida Brakni, Francis Nijim, Nadia Kaci, Hilda Amira Douaouda, Meriem Medjkane, Zahra Manel Douumandji Länge: 104 min.
Läuft derzeit in den Schweizer Kinos, z.B. im Kinok St. Gallen und im Skino Schaan.
Trailer zu "Houria"
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