Filmbuch: Wahrnehmung stören – Essays zu Film und Kino
- Walter Gasperi
- vor 1 Tag
- 3 Min. Lesezeit

Im Schüren Verlag ist als sechster Band der edition filmbulletin ein Sammelband mit 19 Essays erschienen, die der Schweizer Kultur- und Filmwissenschaftler Johannes Binotto zwischen 2005 und 2020 für die Zeitschrift Filmbulletin verfasst hat: Ein ebenso vielfältiger wie Gedanken anregender Band, der eindrücklich auch Binottos immenses filmgeschichtliches Wissen demonstriert.
Beeindruckend ist zunächst einmal die Vielfalt der jeweils 15 bis 20 Seiten langen Essays. Der Bogen spannt sich von sieben Thesen zum Vorspann über einen Beitrag zu den Filmen von Paul Thomas Anderson und den Schneewestern bis zur Analyse der Funktion von Rückprojektionen oder dem Wandel des Kinoraums im Laufe des letzten Jahrhunderts.
Souverän verbindet Binotto dabei immer philosophische Überlegungen mit präziser Analyse von Filmszenen, die die Lektüre ebenso spannend wie anschaulich macht. Wie umfassend das filmgeschichtliche Wissen des Autors ist, zeigt sich dabei vor allem, wenn er nicht nur Klassiker, sondern auch weitgehend unbekannte Filme wie Gregory La Cavas Psychiatrie-Film "Private Worlds" (1935) oder Richard Fleischers B-Movie "Follow Me Quietly" (1949) ins Spiel bringt.
Aber auch der Gedankenreichtum der Essays und die überraschenden Blicke auf die einzelnen Themen begeistert. Da fordert Binotto beispielsweise im Beitrag zur Filmbildung, dass dies ein Prozess mit offenem Ergebnis sein soll und statt der Trennung von Lehrenden und Lernenden beide Gruppen gemeinsam dem Film nachspüren sollen.
Im Essay zu Paul Thomas Anderson arbeitet der Filmwissenschaftler wiederum mittels detaillierter Szenenanalyse plastisch Andersons Arbeit mit Symmetrien, Parallelwelten und parallelen Figuren heraus. Nicht nur in diesem Beitrag wird die Argumentation dabei durch eine kluge Bildauswahl unterstützt.
Das zweite Regisseurporträt des Bandes widmet sich Sam Peckinpah. Dessen Kino sieht Binotto als eines der Zusammenbrüche und der Ausweglosigkeit, in dem die Helden - wie der Regisseur selbst zwischen dem klassischen Hollywood und dem New Hollywood - zwischen den Zeiten leben.
Aufregend arbeitet der Autor auch heraus, wie im Lauf der Filmgeschichte in Wissenschaftsfilme einerseits fiktionale Momente einflossen, andererseits in einem Spielfilm wie Murnaus "Nosferatu" auch Elemente des Wissenschaftsfilms nicht fehlen. Beim Thema "Ekel im Film" fokussiert Binotto dagegen anhand konkreter Filmbeispiele auf dem Widerspruch zwischen der Lust am Ekel und gleichzeitiger Verweigerung desselben.
Deckt der Autor im Essay zum US-Kino der 1980er Jahre auf, wie sich hinter den für das Kino dieses Jahrzehnts typischen Oberflächen Abgründe und Leere verbergen, so beschreibt er den Schneewestern – natürlich wiederum anhand konkreter Filmbeispiele – als Subgenre, das vom Zerbrechen der Ordnungen, der Auflösung der Dichotomie von Gut und Böse und von Untergang erzählt.
Der Streifzug durch die Darstellung von Psychiatrie im Film von Frederick Wisemans "Titicut Follies" über Vincente Minellis "The Cobweb" bis zu Sam Fullers "Shock Corridor" beeindruckt ebenso durch Kenntnisreichtum und aufregende Interpretationen wie der Essay über die Geschichte des Bösen im Film. Dabei spannt der Autor den Bogen von vorfilmischen Vorführungen von Hinrichtungen im Jahr 1797 über die Filme von George Méliès und Louis Feuillade bis zu Michael Powells "Peeping Tom" und den Filmen David Cronenbergs.
Eine Analyse des US-Paranoiakinos fehlt so wenig wie ein Blick auf die Geschichte der Serienkillerfilme von den Anfängen der Filmgeschichte bis zu David Finchers "Zodiac". Beim Essay zum Thema "Surrealismus und Film" blickt Binotto nur am Beginn auf klassische surrealistische Filme, um dann aufzuzeigen, wie auch im klassischen Hollywood-Kino von Hitchcocks "North by Northwest" bis zu Jonathan Demmes "Silence of the Lambs" surrealistische Elemente zu finden sind.
Auch im Beitrag zur oft geschmähten Rückprojektion ist es die detaillierte, durch Filmstills unterstützte Analyse von Szenen aus Hitchcocks "Vertigo" und Douglas Sirks "The Magnificent Obsession", durch die Binotto eindrücklich aufzeigt, wie durch diese Technik die psychische Verfassung von Charakteren gespiegelt wird.
Aber auch im Remake entdeckt er gerade durch die Wiederholung einen Mehrwert, da dadurch Elemente des Originals, das es im Grund nicht gibt, klarer zu Tage treten. Dem Einsatz von Technicolor, bei dem es für Binotto nicht um Realitätsnähe, sondern um eine Überhöhung der Realität geht, widmet sich der Autor ebenso wie der Arbeit mit Video, indem er ein Medium sieht, das gegen die eingefahrenen Sichtweisen der Mächtigen antritt und den herrschenden Verhältnissen eine sich stets verändernde Geschichte entgegensetzt.
So bietet jeder der 19 Essays nicht nur eine leicht lesbare und spannende, sondern auch zeitlose Lektüre, die einerseits filmgeschichtliche Kenntnisse vermittelt, andererseits aber auch immer neue Blickweisen auf die Themen öffnet, zum Nachdenken anregt und das Sehen schult. - Abgerundet wird der auch sorgfältig layoutierte Band durch die Angabe der Erstveröffentlichungen und ein Filmverzeichnis.
Binotto, Johannes, Wahrnehmung stören. Essays zu Film und Kino, Schüren Verlag, Marburg 2024, 320 S., € 30, ISBN 978-3-7410-0485-8
Comments