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Filmbuch: Friedrich Wilhelm Murnau (Film-Konzepte 71)

Autorenbild: Walter GasperiWalter Gasperi
"Friedrich Wilhelm Murnau": Filmübergreifende Essays widmen sich bisher wenig beachteten Aspekten im Werk des Meisterregisseurs
"Friedrich Wilhelm Murnau": Filmübergreifende Essays widmen sich bisher wenig beachteten Aspekten im Werk des Meisterregisseurs

Friedrich Wilhelm Murnau zählt zu den ganz großen Regisseur:innen der Filmgeschichte. Der 71. Band der bei et+k erscheinenden Reihe Film-Konzepte blickt aber nicht ein weiteres Mal auf legendäre Meisterwerke wie "Nosferatu", "Der letzte Mann" oder "Sunrise", sondern untersucht in filmübergreifenden Essays bislang wenig beachtete Aspekte von Murnaus Œuvre und regt auch zu einer Korrektur des Bilds des Meisterregisseurs an.


Der möglichen Frage nach der Notwendigkeit eines weiteren Buchs über Friedrich Wilhelm Murnau (1888 – 1931) nehmen die Herausgeber Julian Hanich und Michael Wedel in ihrer Einleitung sogleich den Wind aus den Segeln, indem sie darlegen, dass es kaum neuere Literatur über diesen großen Stummfilmregisseur gibt.


Zudem verweisen sie darauf, dass auf den folgenden 100 Seiten keine einzelnen Filmbeschreibungen geboten werden, sondern die sieben Beiträge filmübergreifend bislang kaum beachtete Motive und Aspekte untersuchen. Das Buch soll so eine Neubewertung des überlieferten Murnau-Bilds, der den einen als Maler unter den Regisseuren, anderen als Lyriker, wieder anderen als romantischer Melancholiker und André Bazin sogar als Realist galt, ermöglichen.


Herausgeber Julian Hanich selbst arbeitet in seinem Essay heraus, wie Murnau in seinen Stummfilmen einerseits mit Bildern, die konkret auf Töne verweisen, und andererseits durch sich vergrößernde Zwischentitel eines Schreis, sich nähernde Einstellungen auf Tonquellen oder rufende Menschen Töne quasi hörbar macht. Die detailreiche und präzise Beschreibung einzelner Filmszenen, die zudem durch Filmstills teilweise illustriert werden, macht dabei – wie auch bei den anderen Beiträgen - die Argumentation Hanichs nachvollziehbar und verleiht diesem Aspekt der Filme Murnaus ganz neues Gewicht.


Kristina Köhler spürt ausgehend von der großen Rolle, die Mode im Alltag Murnaus spielte, der Rolle von Kleidung und Textilien in seinen frühen Filmen nach. Anschaulich zeigt die Autorin so auf, wie Schloss Vogelöd" (1921) durch die Männeranzüge zu einem Gentlemen-Film mit queerem Touch wird, wie Physiognomie und Textilien in "Der letzte Mann" (1924) zusammenspielen und wie in "Phantom" (1922) Mode eingesetzt wird, um den Konflikt von Eitelkeit und sozialer Maskerade zu verhandeln.


Guido Kirsten untersucht Murnaus Umgang mit Armut und sozialer Ungleichheit in "Phantom". Aufbauend auf einer detaillierten Schilderung des Inhalts arbeitet der Autor heraus, dass Murnau zwar Klassengegensätze aufzeigt, aber der Film letztlich nicht gesellschaftskritisch zu einer Veränderung der Verhältnisse aufruft, sondern ins Zentrum die Geschichte eines Mannes stellt, der unschuldig schuldig wird, dafür büßen muss und schließlich Erlösung findet.


Daniel Illger widmet sich dagegen der stillen Fantastik in Murnaus frühen Filmen "Nosferatu" (1922), "Der brennende Acker (1922) und "Der Gang in die Nacht" (1921). Auch hier legt der Autor anhand der detaillierten Beschreibung einzelner Szenen bestechend dar, wie durch die Arbeit mit Naturbildern und deren Verbindung mit den Protagonisten eine Atmosphäre erzeugt wird, in der sich vom Rande der Wirklichkeit her das Unheimliche und Fantastische einnistet.


Auf die Kamera- und Tricktechnik in den Filmen des Meisterregisseurs blickt dagegen Katharina Loew. Sie stellt dabei zunächst dem im deutschsprachigen Raum verbreiteten Bild von Murnau als empfindsamem Schöngeist mit wenig Interesse an Technik die Sicht in Hollywood gegenüber, wo er als an technischer Innovation und Kameraarbeit brennend interessierter Regisseur galt. Loew zeichnet dabei auch nach, wie Murnau dem zunächst wenig beachteten und geschätzten technischen Medium mit statischer Kamera durch den Einsatz der bewegten und entfesselten Kamera als zentralem Gestaltungsmittel ganz neue und rein filmische Möglichkeiten eröffnete.


Herausgeber Michael Wedel versucht in seinem Essay zu widerlegen, dass Murnau im Gegensatz zur weitverbreiteten Meinung durchaus in der Lage war, komödiantische Szenen zu gestalten. Dies vermittelt er anhand der detaillierten Beschreibung einzelner Szenen von "Nosferatu", "Der Gang in die Nacht", "Die Finanzen des Großherzogs" und "Sunrise", in denen sich durch Spielkontraste beziehungsweise Bildkontraste und Stilkontraste Komik entwickelt.


Nicholas Baer blickt schließlich auf die Rolle von Gerüchten in Murnaus Filmen. Ausgehend von Platons Gedanken zu Meinung und Wissen geht der Autor auf die weibliche Konnotation von Tratsch ein, beschreibt die akustische Verbreitung eines Gerüchts im Stummfilm "Der letzte Mann" durch Frauen und blickt auch auf die Gerüchteküche über Murnaus Homosexualität und seinen Tod bei einem Autounfall, bei dem der 14jährige Filipino Garcia Stevenson am Steuer saß. 


Vom Historischen schlägt Baer den Bogen zu der rasenden Verbreitung von Gerüchten durch Internet und Social Media heute, um von den Gerüchten und Fake News über die Corona-Pandemie zur Verbreitung des Gerüchts über die Pest in "Nosferatu" zu kommen. So wird in diesem weitgespannten Essay sichtbar, wie Murnaus Filme in Opposition zu Platons klarer Trennung von Meinung und Wissen mit ihrer Dialektik des destabilisierten Wissens einen Widerhall in der zeitgenössischen Landschaft der Medien und der Politik finden.


Wie gewohnt bei der Reihe Film-Konzepte runden auch diesen Band, der mit seinen ebenso präzisen wie fundierten Blicken auf bisher kaum beachtete Aspekte im Werk Murnaus sicherlich die gewünschten Diskussionen über das tradierte Murnau-Bild anregen kann, eine kurze Biographie und eine Filmografie, die sich auf Titel und Entstehungsjahr der Filme beschränkt.


 

Julian Hanich / Michael Wedel (Hg.), Film-Konzepte 71: Friedrich Wilhelm Murnau, Edition text + kritik, München 2023. 114 S., € 28, ISBN 978-3-96707-889-3


auch bei et+k erschienen: Julian Hanich, Film | Lektüren 5: Friedrich Wilhelm Murnau: CitY GIRL. Edition text + kritik, München 2022. 101 S., € 20, ISBN 978-3-96707-735-3

 

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