Drei Jahre lang begleitete Ruth Beckermann für ihren kommentarlosen Dokumentarfilm eine Lehrerin und ihre migrantischstämmigen Schüler:innen der größten Wiener Volksschule im Bezirk Favoriten: Eine eindrucksvolle Hommage an eine engagierte Pädagogin ebenso wie an ihre Schützlinge, die aber auch Missstände im Bildungssystem aufdeckt.
Dokumentarfilme über Schulen gibt es schon einige. Ein Klassiker ist Nicolas Philiberts "Être et avoir" (2002), in dem der Franzose eine einklassige Volksschule in der Auvergne porträtierte und die Freue am Lernen und Entdecken von Neuem feierte. Maria Speth vermittelte dagegen in ihrem fast vierstündigen "Herr Bachmann und seine Klasse" (2021) mitreißend das Engagement eines Alt-68-er Lehrers für seine multikulturelle Realschulklasse.
Im Gegensatz zu Speth konzentriert sich Beckermann in ihrem bei der heurigen Berlinale mit dem Friedensfilmpreis ausgezeichneten Dokumentarfilm nicht auf ein Schuljahr, sondern zeichnet die Entwicklung von der zweiten bis zur vierten Klasse Volksschule nach und präsentiert mit der gut 30-jährigen Ilkay Idiskut auch eine moderne und migrantische Lehrerin.
Einigermaßen erstaunt ist der Dompfarrer des Wiener Stephansdom Toni Faber doch, als er bei einer Führung für die Schüler:innen von Frau Idiskut erfährt, dass kein einziges Kind katholisch ist. Wie divers die Klasse ist, wird schon an den vielfältigen Religionsbekenntnissen von islamisch über serbisch-orthodox bis rumänisch-orthodox sichtbar.
Vor beträchtliche Aufgaben ist die engagierte Pädagogin hier gestellt, denn am Beginn der zweiten Klasse können die Schüler:innen teilweise noch kaum Deutsch. Doch im Lauf der Zeit des zwischen Herbst 2020 und Frühjahr 2023 gedrehten Films wird sichtbar, wie sie sich entwickeln, wie sich ihre Deutschkenntnisse verbessern, wie sie Referate halten und auch in Mathematik mit Aufgaben jenseits des Zehnerraums und nicht nur mit Additionen, sondern auch mit Multiplikationen konfrontiert werden.
Mit ihrem Schwung und ihrem Engagement begegnet Frau Idiskut ihren Schüler:innen auf Augenhöhe. Ein Vorteil ist dabei sicher auch ihr eigener Migrationshintergrund, mit dem sie sich in die Situation ihrer Schützlinge hineinversetzen kann. Sie reißt sie schon am Morgen mit einem flotten Song mit, holt sie bei ihrer eigenen Lebenssituation ab, wenn sie sie über den Beruf von Vater und Mutter erzählen lässt. Nicht nur das einfache Milieu wird hier mit Bauarbeiter, Postbote, Straßenarbeiter, Pizzeria-Angestelltem oder Spengler sichtbar, sondern auch klassische Geschlechteraufteilungen, wenn die meisten Mütter Hausfrauen sind.
Die Lehrerin diskutiert mit ihren Schützlingen nicht nur diese Rollenaufteilung und die Aufgaben der Hausfrau, sondern beispielsweise auch die familiäre Vorgabe, dass Mädchen keine bauchfreie Kleidung tragen dürfen, oder den Ukraine-Krieg.
Vor allem am Beginn des Films spielen soziale Aufgaben eine größere Rolle als die Vermittlung von Lernstoff, aber auch später muss noch der Umgang miteinander thematisiert werden. Auch wenn es um Mobbing einer Schülerin geht, bleibt die Lehrerin sachlich, bezieht aber auch mit lauterer Stimme und klarer Diktion Position, macht deutlich, dass sie solche Übergriffe nicht toleriert. Vorverurteilungen kennt sie aber nicht, sondern lässt immer beide Parteien zu Wort kommen, um sich ein objektives Bild der Situation verschaffen zu können.
Mit dem Wechsel der Schuljahre, der durch Inserts markiert wird, werden aber auch die Anforderungen an die Schüler:innen größer. Schularbeiten müssen geschrieben werden und Tränen fließen bei schlechten Noten, denn es geht ja im letzten Schuljahr auch um den Wechsel auf die Mittelschule oder ins Gymnasium.
Beschränkt sich Ruth Beckermann in klassischer Direct Cinema-Manier auch auf eine begleitende Beobachtung und verzichtet auf jeden Kommentar, so wird in dieser Schilderung der Situation in der vierten Klasse doch deutlich Kritik an der frühen Selektion und ein Plädoyer für eine gemeinsame Schule der 10- bis 14-Jährigen spürbar.
Kritik an schweren Defiziten des Bildungssystems tritt aber auch zu Tage, wenn der Direktor dem Kollegium erklären muss, dass es in diesem Schuljahr keine Sprachförderkurse mehr geben wird, dass die Schulsozialarbeiterin an eine andere Schule abgewandert ist und dass die Schulpsychologin bald in Karenz gehen wird und bislang kein Ersatz gefunden wurde.
Eine Sonderstellung nimmt diese Ansprache des Direktors ein, denn davon abgesehen konzentriert sich Ruth Beckermann fast ausschließlich auf die Klasse von Frau Idiskut. Von kurzen Exkursionen in Moschee, Stephansdom und Schwimmbad abgesehen, bleibt der Film weitgehend im Klassenzimmer und nur über die Erzählungen der Schüler:innen und der Eltern bei Sprechtagen erfährt man etwas über den privaten Hintergrund der Kinder.
Ihre Herkunft wird nicht weiter thematisiert, der Fokus liegt auf ihrer Entwicklung im Hier und Jetzt, aber auch ihre Berufsträume werden angesprochen, wenn die Kinder erzählen, dass sie Polizistin, Lehrerin oder Krankenpflegerin werden wollen.
Nah dran ist Beckermann nicht nur an der Lehrerin, sondern vor allem an den Schüler:innen, die sie immer wieder in Großaufnahmen ins Bild rückt. Sie sind entsprechend dem doppeldeutigen Titel, der sich nicht nur auf den zehnten Gemeindebezirk Wiens, sondern auch auf die Schüler:innen bezieht die Favorit:innen nicht nur der Lehrerin, sondern auch der Regisseurin. Zudem gestalten sie mit eigenen, in den Film eingewobenen Handyaufnahmen, in denen sie ihre Mitschüler:innen, aber auch die Lehrerin über Hobbys, Heiratswünsche oder Familienverhältnisse befragen, "Favoriten" auch mit.
Spürbar ein großes Nahverhältnis hat die Regisseurin zu dieser Klasse hergestellt. Völlig natürlich agieren nämlich sowohl die Kinder als auch die Lehrerin und trotz der Nähe stellt sich nie das Gefühl von Voyeurismus ein, sondern empathisch ist der Blick. Ihre schulischen Schwierigkeiten und Misserfolge gehen einem ebenso nahe wie man sich über ihre Fortschritte und Erfolge freut. Immer wieder kann man auch mit ihnen lachen, bis im Finale der Abschied nicht nur Frau Idiskut, sondern auch den Zuschauer:innen die Tränen in die Augen treiben kann.
So ist "Favoriten" eine Hommage an die Lehrerin und ihre Schüler:innen, macht deutlich, wie unterschiedlich die Ausgangssituationen von Kindern aufgrund ihrer Herkunft fürs Leben sind und verbreitet doch auch Hoffnung, dass diese Startnachteile durch engagierte Lehrkräfte zumindest teilweise wettgemacht werden können.
Favoriten Österreich 2024 Regie: Ruth Beckermann Dokumentarfilm mit Ilkay Idiskut und 25 Schüler:innen Länge: 118 min.
Läuft derzeit in den österreichischen und deutschen Kinos, z.b. im Kino GUK in Feldkirch.
Filmforum Bregenz im Metrokino Bregenz: Mi 16.10. 2024, 20 Uhr Kinothek extra in der Kinothek Lustenau: Mi 27.11., 20 Uhr + Mo 2.12., 18 Uhr
Trailer zu "Favoriten"
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