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  • AutorenbildWalter Gasperi

Herr Bachmann und seine Klasse


Abschreckend wirkt die Länge von 217 Minuten, doch Maria Speths Dokumentarfilm über einen unkonventionellen Lehrer und seine multikulturelle Klasse ist so kurzweilig und beglückend, dass die Zeit wie im Flug vergeht.


Unsichtbar ist zunächst der Lehrer Dieter Bachmann. Aus seiner Perspektive blickt die Kamera von Reinhold Vorschneider in einer langen statischen Einstellung auf die zwölf- bis vierzehnjährigen Schüler*innen der 6b der Georg-Büchner-Schule im hessischen Stadtallendorf. Schon in dieser Einstellung bewährt sich die Wahl des Cinemascope-Formats, kann mit dessen Breite doch die ganze Klasse eingefangen werden.


Was Herr Bachmann zu diesem Auftakt aus dem visuellen Off von sich gibt, macht schon klar, dass er kein konventioneller Lehrer ist. Er erkundigt sich nicht nur wer fehlt, sondern fragt auch, ob sie müde seien, und lässt die Schüler*innen, als sie seine Frage bejahen, nochmals ein paar Minuten die Augen schließen und ihre Köpfe auf die Bank legen.


Der erste Eindruck bestätigt sich als der 63-jährige Pädagoge ins Bild kommt. Ein echter Alt-68er ist das mit seinen mal bunten, mal einfarbigen Wollmützen, die er nie abnimmt, seinem Dreitagebart, der auch mal länger werden kann, und seinem AC/DC-Sweatshirt. Auch seine Sprache ist für einen Lehrer ungewohnt, denn auch "am Arsch lecken", "Scheiße" oder "geil" gehören zu seinem Wortschatz.


Doch nie sagt er ein falsches Wort zu seinen Schützlingen, auch wenn er sie immer wieder mal mit klarer und scharfer Ansage zurechtweisen oder auch des Klassenzimmers verweisen kann. Ganz auf Augenhöhe mit seinen Schüler*innen ist er, nimmt sie als junge Menschen ernst und versucht stets ihr Selbstbewusstsein zu stärken und ihnen zu helfen, den für sie besten Weg zu finden.


Leicht ist das nicht, denn inhomogen ist die Klasse nicht nur hinsichtlich ihres Alters, sondern auch hinsichtlich ihrer Herkunft. Neben der ehrgeizigen, aus Kasachstan stammenden Anastasia gibt es da den bulgarischstämmigen Hasan, der gerne Boxer werden würde, neben der zurückhaltenden Zerhan die forsche Steffi. Rabea wiederum leidet darunter, dass ihre Mutter einen Umzug plant, der sie aus dem vertrauten Umfeld reißen würde, und Cengiz kann sich selten zurückhalten.


Bulgarien, Türkei, Brasilien, Marokko und Kasachstan sind nur einige der neun Nationen, aus denen die 19 Schüler*innen der 6b stammen. Ganz unterschiedlich ist damit auch ihr kultureller und religiöser Hintergrund. Um aus dieser Gruppe, in der auch die Deutschkenntnisse ganz unterschiedlich sind, eine Gemeinschaft zu bilden, scheint eine ganz andere Lernumgebung als üblich nötig. So liegen in Herrn Bachmanns Klasse überall Musikinstrumente herum, gibt es auch eine Couch, um sich auszuruhen, eine Teeecke um sich zu stärken, und auch Döner dürfen gegessen werden. Konstante ist freilich, dass auch in dieser Klasse die "Gangster" in der hintersten Reihe sitzen.


Unkonventionell sind aber auch die Methoden von Herrn Bachmann. Zwar muss auch deutsche Grammatik und Bruchrechnen geübt werden, doch wenn die Schüler*innen persönliche Probleme haben und schlecht drauf sind, wird der Lehrstoff zurückgestellt, denn wichtiger ist die Persönlichkeit. Wenig erfreut reagieren zuerst einige gute Schüler*innen zwar auf seine Aufforderung den schwächeren zu helfen, doch die Förderung der Achtsamkeit und des Miteinanders ist ganz zentral für diesen Lehrer.


Eine große Rolle spielt so in seinem Unterricht die Musik, mit der über Sprachbarrieren hinweg das Gemeinschaftsgefühl gefördert werden kann. Kontrovers werden aber auch Fragen zu einem Kruzifix in einer Klasse oder zu gleichgeschlechtlicher Liebe diskutiert und immer fragt Bachmann nach, lässt sich nicht mit pauschalen Antworten abspeisen, sondern will, dass die Schüler*innen ihre Meinung begründen.


Beglückend ist, wie natürlich Lehrer und Schüler*innen agieren. Erreicht werden konnte dies nur durch ein großes Vertrauen zwischen Protagonist*innen und Filmemacherin. 200 Stunden Filmmaterial sind zwischen Januar und Juni 2017 zusammengekommen, die Maria Speth dann zunächst auf 20 und schließlich auf dreieinhalb Stunden verkürzt hat.


Auf jeden Kommentar verzichtet die Regisseurin ebenso wie auf Interviews und Filmmusik. In bester Direct Cinema-Tradition beschränkt sie sich darauf den Lehrer und seine Klasse durch ein Schuljahr zu begleiten. Nichts Spektakuläres passiert, doch der neugierig entdeckende und geduldig beobachtende, immer einfühlsame Blick, der auch dem Blick Bachmanns entspricht, nimmt von Anfang an für den Lehrer und seine Schüler*innen ein.


Auf einen stringenten Aufbau scheint Speth verzichtet zu haben, auch wenn am Ende Schulschluss und Übertritt in Hauptschule, Realschule oder Gymnasium stehen. Locker reiht die Dokumentarfilmerin Szenen aneinander. Der Fokus liegt dabei zwar auf der Interaktion im Klassenzimmer oder gegen Ende auf einer Klassenfahrt, aber in einem Gespräch mit einem Kollegen erfährt man auch, dass der kurz vor der Pension stehende Dieter Bachmann eher aus Zufall und durch Geldmangel in den Lehrerberuf gerutscht ist und diesen mit 40 auch wieder aufgeben wollte.


Aber auch das historische und soziale Umfeld arbeitet Speth in ihren Dokumentarfilm ein, wenn die Klasse eine Gedenkstätte besucht, die an den Einsatz von Zwangsarbeitern in der örtlichen Sprengstoffproduktion während des Zweiten Weltkriegs erinnert, oder eine Doku über die Anwerbung von Gastarbeitern für die Industrie Anfang der 1960er Jahren ansieht. Von der Vergangenheit schlägt Speth so in ihrem großartigen Dokumentarfilm den Bogen mit der multikulturellen Klasse zur Gegenwart und zeigt, ohne je zu dozieren, am Beispiel von Dieter Bachmann, wie Integration gefördert werden und gelingen kann.


Herr Bachmann und seine Klasse Deutschland 2021 Regie: Maria Speth Dokumentarfilm Länge: 217 min.


LeinwandLounge in der Remise Bludenz: Mi, 2.2., 18 Uhr Skino Schaan: Do 17.2., 18 Uhr

Trailer zu "Herr Bachmann und seine Klasse"


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