Ein junger Mann soll zu drei historischen Figuren eines Wachsfigurenkabinetts – zum Kalifen Harun al Raschid, zu Iwan dem Schrecklichen und zu Jack the Ripper – Geschichten schreiben. Paul Lenis expressionistischer Stummfilm ist in hervorragend restaurierter Fassung bei absolut Medien auf DVD und Blu-ray erschienen.
Die Unsicherheit und die Ängste, die in der Weimarer Republik nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg und dem Sturz der Monarchie herrschten, spiegelten sich in Filmfiguren, die Angst verbreiten. Friedrich Wilhelm Murnaus „Nosferatu“, Robert Wienes „Das Cabinet des Dr. Caligari“ sowie Fritz Langs „Dr. Mabuse“ sind wohl die berühmtesten Beispiele, aber auch Paul Lenis „Das Wachsfigurenkabinett“ gehört dazu.
Die Verwendung einer Rahmenhandlung, in der ein junger Schriftsteller auf einem Jahrmarkt in ein Wachsfigurenkabinett kommt und vom Besitzer den Auftrag erhält, zu drei Figuren Geschichten zu schreiben, erinnert an Fritz Langs „Der müde Tod“. Wie dort gehen auch hier der Schriftsteller und die Tochter des Besitzers in Figuren der einzelnen Geschichten über.
Der abgebrochene Arm der Wachskopie des Kalifen Harun al Raschid (Emil Jannings) inspiriert den Schriftsteller zur ersten Geschichte, in der ein eifersüchtiger Bäcker den Kalifen zu berauben und zu töten versucht, aber nur dessen Wachskopie einen Arm abschlägt. In der zweiten Episode tauscht Zar Iwan der Schreckliche (Conrad Veidt), der es genießt der Folterung und dem Tod von Gefangenen beizuwohnen, mit einem Diener die Rolle, weil er einen Anschlag fürchtet, verfällt aber schließlich völlig dem Wahnsinn, weil er glaubt vergiftet worden zu sein.
Verbindet diese beiden Geschichten ein Rollentausch, so wird im Finale der Schriftsteller quasi selbst von Jack the Ripper (Werner Krauss) heimgesucht, wenn er träumt, dass er und die Tochter des Budenbesitzers auf dem Jahrmarkt vom Mörder verfolgt werden.
Beeindruckend sind in der ersten Episode vor allem die expressionistischen Kulissen, die von „Das Cabinet des Dr. Caligari“ inspiriert zu sein scheinen. In enge Wohnungen bis hin zu einem Backofen und schlauchartige Gänge werden hier die Protagonisten gesperrt. Auch eine Verfolgungsjagd durch den Palast des Kalifen fehlt nicht. Insgesamt herrscht hier aber ein burlesker und lockerer Erzählton, der auch durch das Happy-End unterstrichen wird
Von der Folterkammer zu einer von einer Stimmung der Angst bestimmten Hochzeit führt dagegen die zweite Episode, in der die Räume so niedrig sind, dass die Figuren kaum einmal aufrecht gehen können. Visuell am aufregendsten ist aber die dritte, allerdings sehr kurze Episode, in der Leni mit Doppelbelichtungen, dem Spiel mit Licht und Schatten und schiefen Kulissen eindrücklich ein Gefühl der Verunsicherung und Verfolgung durch Jack the Ripper erzeugt.
Problem des mit Emil Jannings, Conrad Veidt und Werner Krauss hochkarätig besetzten Films ist allerdings doch, dass die einzelnen Episoden ganz unterschiedliches Gewicht haben. Während die erste rund 45 Minuten lang ist, umfasst die zweite nur etwa 20 Minuten und die letzte wirkt mit etwa fünf Minuten nur noch wie ein Anhang.
Großartig gelungen ist aber auf jeden Fall die digitale Rekonstruktion dieses Stummfilms. Trotz des Alters von fast 100 Jahren besticht die Bildqualität ebenso wie die Farbabstimmung. Einen spannenden Einblick in die Schwierigkeiten und die Akribie der Rekonstruktion bietet Julia Wallmüller in ihrem Artikel im beigelegten Booklet.
Weiters enthält das sehr informative Booklet kurze Biographien von Regisseur Paul Leni, Drehbuchautor Henrik Galen und Kameramann Helmar Lerski sowie Nachdrucke von Siegfried Kracauers Text über „Das Wachsfigurenkabinett“ in seinem legendären „Von Caligari bis Hitler“ und von Robert Kurtz Beitrag dazu in seinem 1926 erschienenen Buch „Expressionismus und Film“.
Die Zwischentitel der bei absolut Medien erschienenen DVD und Blu-ray sind – da die deutsche Fassung als verloren gilt - englisch, Untertitel in verschiedenen Sprachen, darunter auch Deutsch, können zugeschaltet werden. Alternativ können zwei, 2019 entstandene Soundtracks gewählt werden, das Bonusmaterial besteht aus dem nur als zwölfminütiges Fragment erhaltenen Dokumentarfilm „Der Film im Film“ (1923/24), der Einblick in die Dreharbeiten von Fritz Langs „Die Nibelungen“ und Robert Wienes „I.N.R.I.“ bietet.
Trailer zu "Das Wachsfigurenkabinett"
Comments