top of page
  • AutorenbildWalter Gasperi

Crossing Europe 2024: Frustration, Wut und Aggression

Aktualisiert: 5. Mai

Zwei starke Filme über die Auswirkungen der Frustration von Jugendlichen aus einem benachteiligten Milieu beim Crossing Europe Filmfestival Linz: "Ellbogen" von Asli Özarslan und "Il pleut dans la maison" von Paloma Sermon-Daï.


Seit einigen Jahren gibt es beim Crossing Europe Filmfestival Linz die Jugendschiene YAAS!. Einerseits sollen damit Jugendliche für eine spätere Mitarbeit beim Festival motiviert werden, indem sie Filme selbst auswählen und präsentieren dürfen, andererseits soll mit jugendgemäßen Filmen auch bei einem jungen Publikum Lust auf Arthouse-Kino geweckt werden. Dank des Besuchs von Schulklassen sind so die vormittäglichen Vorführungen im Central Kino auch immer wieder ausverkauft.


Ganz auf Augenhöhe ihrer 18-jährigen deutschtürkischen Protagonistin Hazal ist Asli Özarslan in ihrer Verfilmung von Fatma Aydemirs Roman "Ellbogen". In jeder Szene ist Hazal präsent, ganz aus ihrer Perspektive wird erzählt, nah ist die Kamera von Andac Karebeyoglu-Thomas an ihr dran, vermittelt mit unruhigen Bewegungen, die innere Erregung der jungen Berlinerin.


In der Schule werden zwar Bewerbungsschreiben geprobt, doch in der Realität hat Hazal damit keinen Erfolg. Man spürt ihre Wut, wenn sie bei einer Bewerbung für einen Job in der Altenpflege abgewiesen wird. Unbefriedigend ist die Arbeit in der Bäckerei ihrer Mutter. Eine Ausbildung möchte sie machen, erhält aber keine Chance und auch aus dem beengenden familiären Milieu möchte sie ausbrechen.


Schikanen muss sie sich von einem Kaufhausdetektiv gefallen lassen, denn keineswegs darf die Mutter erfahren, dass sie beim Diebstahl erwischt wurde. Man spürt, wie sich Frustration und Wut in ihr langsam steigern. Von der familiären Feier ihres 18. Geburtstags kann sie sich zwar bald davonschleichen, um mit zwei Freundinnen richtig zu feiern, doch der Zutritt zu einem Club wird dem Trio verwehrt.


Als die drei jungen Frauen dann in einer U-Bahnstation von einem betrunkenen jungen Deutschen übergriffig angeredet werden, eskaliert die Situation. Die verbalen Angriffe gehen in Handgreiflichkeiten über, bald treten die Freundinnen immer wieder auf den am Boden liegenden Mann ein und als dieser dennoch wieder aufsteht, kommt es zu einem Schlag mit verheerenden Folgen.


Von Berlin flieht Hazal so nach Istanbul, findet dort bei einem abgeschobenen Deutschtürken, den sie aus dem Internet kennt Unterschlupf, doch weiß sie im Grunde nicht, wie es weitergehen soll.


So stark die Szenen in Berlin sind, so verliert "Ellbogen" in Istanbul doch deutlich an Fahrt. So ratlos wie Hazal mäandert auch der Film dahin, aufgesetzt wirkt ein politisch aktiver Kurde, mit dem wohl der Aspekt der Unterdrückung dieser Minderheit abgedeckt werden soll. Dennoch packt dieser Coming-of-Age-Film nicht zuletzt dank des natürlichen und leidenschaftlichen Spiels von Melia Kara als Hazal und vermittelt ein eindringliches Bild von der Zerrissenheit junger Deutschtürken und der Aggression, die sich durch vielfältige alltägliche Frustrationen aufbaut.


Welche schwere Last die 18-jährige Purdey und ihr 15-jähriger Bruder Makenzy in ihrem Leben tragen müssen, macht schon die erste Einstellung von Paloma Sermon-Daïs "Il pleut dans la maison" deutlich. Endlos lange tragen die beiden Teenager, die vom Geschwisterpaar Makenzy und Purdey Lombet gespielt werden, hier auf einer Dorfstraße die schweren Einkaufstaschen auf die Kamera zu.


Mit ihrer Mutter leben sie in einem desolaten Haus, in das es dem Titel entsprechend durchs defekte Dach regnet. Auf sich allein gestellt sind die beiden Jugendlichen, die Mutter verschwindet nämlich bald heimlich in der Nacht. Der leergeräumte Kleiderschrank deutet darauf hin, dass sie nicht plant zurückzukehren. Während Purdey ihren Plan von einer Ausbildung zur Pflegerin aufschiebt und einen Job als Reinigungskraft in einer Ferienanlage annimmt, um Geld für eine eigene Wohnung zu verdienen, hängt Makenzy mit seinem Freund herum. Gemeinsam klauen sie Fahrräder, die sie dann verkaufen.


Im unaufgeregt-langsamen Erzählrhythmus wird nicht nur die Ereignislosigkeit eines heissen Sommers spürbar, sondern in den Begegnungen der Jugendlichen wird auch die große soziale Kluft sichtbar. Da steht Purdey ihr aus gutbürgerlichem Haus stammender Freund gegenüber, der in gepflegtem Haus lebt und für nächstes Jahr einen College-Besuch plant, während Makenzy am See einen etwas jüngeren Jugendlichen trifft, der von seinem als CEO arbeitenden Vater und einem Luxusleben erzählt. Wut löst dieser Einblick in eine gänzlich andere Lebenswelt bei Makenzy aus, die sich schließlich in Aggression entlädt.


So erzählt Paloma Sermon-Daï in ihrem Spielfilmdebüt unaufdringlich, aber eindrücklich von unterschiedlichen Lebenswelten, von der prägenden Rolle des Elternhauses und der Kindheit und wie soziale Kluft der Nährboden für gesellschaftliche Konflikte ist, aber auch von der Kraft einer starken Geschwisterliebe.  


Weitere Berichte vom Crossing Europe Film Festival 2024:

- Zwischenbericht 1 ("Ultima Thule" + "Hotel Pula")

bottom of page