Kenneth Branaghs warmherzige Reminiszenz an seine Kindheit im vom Nordirlandkonflikt erschütterten Belfast des Jahres 1969 besticht durch starke schauspielerische Leistungen, brillante Schwarzweißbilder und gefühlvolle Szenen, hat aber dramaturgische Schwächen.
Mit Shakespeare-Verfilmungen wie "Heinrich V." (1989) und "Hamlet" (1996) wurde Kenneth Branagh berühmt. In den 2010er Jahren übernahm er aber auch die Regie bei der Comicverfilmung "Thor" (2011) und beim Actionthriller "Jack Reacher: Shadow Recruit" (2014) und drehte mit "Cinderella" (2015) einen opulenten und visuell berauschenden Märchenfilm.
In den letzten Jahren konzentrierte sich der Brite auf Krimis von Agatha Christie und legte Neuverfilmungen von "Der Mord im Orient-Express" (2017) und "Tod auf dem Nil" (2022) vor, der aufgrund der Pandemie erst vor zwei Wochen in die Kinos kam. Als sehr wandlungsfähig und experimentierfreudig hat sich Branagh damit bewiesen und probiert nun mit seiner für sieben Oscar nominierten, autobiographisch gefärbten Kindheitsgeschichte wieder etwas ganz Neues.
Was für ein Opening ist das: In Luftaufnahmen wird in kräftigen Farben ein Bild des gegenwärtigen Belfast vermittelt, während die nordirische Singer-Songwriter-Legende Van Morrison "Down to Joy" singt. Mit dem Blick auf eine bemalte Mauer und dem Insert "15. August 1969" wechselt "Belfast" zu Schwarzweiß. Mit einer Kranfahrt erhebt sich die Kamera von Haris Zambarloukos über die Mauer, taucht auf der anderen Seite in einen Straßenzug ein und stellt in gleitender Fahrt unterschiedliche Menschen vor.
Eine heile Welt scheint hier zu herrschen, in der der neunjährige Buddy (Jude Hill) auf der Straße mit Holzschwert und Kinderschild gegen Drachen kämpft, doch abrupt bricht mit dem Auftreten eines aggressiven protestantischen Mob Gewalt ein: Molotov-Cocktails und Pflastersteine fliegen, Fensterscheiben werden eingeschlagen und die Mutter (Caitriona Balfe) rettet Buddy ins Haus. Friedlich lebte die protestantische Familie bislang neben Katholiken, doch nun spitzt sich die Lage zu.
Mit Stacheldraht und Barrikaden werden Straßensperren errichtet, England schickt Truppen nach Nordirland. Beim Betreten des Straßenzugs müssen die Bewohner*innen sich jeweils ausweisen. Auch Buddys Vater, der in England in der Baubranche arbeitet und nur alle zwei Wochen zu seiner Familie heimkehrt, muss darum kämpfen durchgelassen zu werden.
Den historischen Hintergrund des Nordirland-Konflikts spart Kenneth Branagh aus. Er erzählt konsequent aus der Perspektive Buddys, der das Alter Ego des 1960 in Belfast geborenen Regisseurs ist. Im Hintergrund bleibt so auch der aktuelle politische Konflikt, der freilich immer wieder abrupt und brutal hereinbricht, im Zentrum steht aber die Familien- und Coming-of-Age-Geschichte.
Neben den Eltern spielen dabei die von Judi Dench und Ciarán Hinds wunderbar gespielten Großeltern eine zentrale Rolle. Vor allem der Großvater wird hier zum Lebensberater für den kleinen Buddy in der Frage zum richtigen Umgang mit der von ihm angehimmelten Mitschülerin. Neben der politischen Situation belastet aber auch die finanzielle die Familie und immer mehr gewinnen Pläne einer Emigration nach England oder gar nach Kanada oder Australien an Gewicht, die freilich wiederum Buddy belasten, der seine gewohnte Gegend nicht verlassen will.
So geht es auch um Heimat und Verbundenheit mit Menschen und Plätzen, aber auch – hier ist wohl Branagh ganz besonders bei sich – um erwachende Kinoleidenschaft, in der ein Abtauchen in eine Fantasiewelt und eine Flucht aus der harten Realität möglich ist. Im Kontrast zum schwarzweißen Film stehen so die leuchtenden Farben der Kinofilme "Eine Million Jahre vor unserer Zeit" ("One Million Years B.C."", 1966) mit Raquel Welch oder das Musical "Tschitty Tschitty Bäng Bäng", die die Familie im Kino sieht, aber auch eine Theateraufführung von Charles Dickens´ "A Christmas Carol". Aber auch wenn John Fords "The Man Who Shot Liberty Valance" oder Fred Zinnemanns "High Noon" im Fernsehen läuft, beschwört Branagh die Filmleidenschaft Buddys.
Produktionstechnisch ist das, was Ausstattung und Kostüme betrifft, auf höchstem Standard, brillant sind auch die den gestochen scharfen Schwarzweißbilder, bei denen man jeden Regentropfen und jede Falte in Judi Denchs Gesicht sieht, großartig die zahlreichen Songs von Van Morrison. Auch schauspielerisch gibt es nichts zu klagen. Keine Starriege wie in den Agatha Christie-Verfilmungen braucht Branagh hier, sondern auch der junge Jude Hill sowie die eher unbekannte Caitriona Balfe und der bislang vor allem durch die "Fifty Shades of Grey" bekannte Jamie Dornan als Eltern überzeugen.
Doch all diese Qualitäten können letztlich nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich kein richtiger Erzählfluss einstellen will. Wohl ein bisschen übernommen hat sich Branagh bei diesem sichtlich mit Herzblut gedrehten Film, will zu viel und hat den Stoff nicht ganz in den Griff bekommen. Abrupt wechseln immer wieder Szenen, wird bald dieser Aspekt ins Spiel gebracht und bald jener – nur zu einer wirklich runden Erzählung will sich "Belfast" nicht fügen.
Akzeptieren kann man, dass dieses Belfast der späten 1960er Jahre im kindlichen Blick allzu geschönt wirkt. Schwerer wiegt, dass Nebenfiguren und einzelne Szenen mehrfach zu bruchstückhaft und zu wenig entwickelt bleiben. Wenn immer wieder glückliche Augenblicke auf bittere Momente folgen, soll das das Spannungsfeld des Lebens zwischen Glück und Trauer vermitteln, doch bleibt "Belfast" dabei recht schematisch und überzogen. Breiter hätte man diese Kindheitsgeschichte wohl ausformulieren müssen, um ihr mehr Fülle zu verleihen. So bleibt ein in einzelnen Szenen immer wieder großartiger und bewegender Film, der aber dramaturgisch nicht ganz überzeugt.
Belfast Großbritannien 2021 Regie: Kenneth Branagh mit: Jamie Dornan, Caitriona Balfe, Ciarán Hinds, Judi Dench, Jude Hill, Colin Morgan Länge: 99 min.
Läuft derzeit in den Kinos
Trailer zu "Belfast"
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