Baby
- Walter Gasperi
- vor 5 Tagen
- 3 Min. Lesezeit

In Marcelo Caetanos zweitem Spielfilm sucht ein junger Haftentlassener in der queeren Szene São Paulos Orientierung und Geborgenheit: Ein ungeschöntes, aber empathisches Porträt der Community, das durch Farb- und Lichtdramaturgie dicht Verlorenheit und Melancholie, aber auch Sehnsucht und Leidenschaft evoziert.
Zuerst sieht und hört man nur einen Trommler, dann kommt eine ganze Blasmusikkapelle dazu. Nicht ein Konzert wird hier geboten, sondern die Gruppe spielt in einem Gefängnis von São Paulo und Anlass ist die Entlassung des 18-jährigen Wellington (João Pedro Mariano), der zwei Jahre inhaftiert war.
Wie mit dieser ungewöhnlichen Musikszene bricht Marcelo Caetano noch mehrmals die Handlung mit Performances von Wellingtons queeren Freunden in Parks, Bussen oder der U-Bahn auf. Mit ihren unkonventionellen Outfits, ihrer grellen Schminke und ihrem expressiven, Voguing genannten Tanz betonen die Mitglieder ihre Nonkonformität und ihre Individualität, strahlen aber auch Lebensfreude und Leidenschaftlichkeit aus.
Wellington aber will zunächst nur zurück zu seinen Eltern, muss in deren alten Wohnung aber erfahren, dass sie ohne Angabe der Adresse die Stadt verlassen haben. Mittellos findet er Unterkunft zunächst bei seinen queeren Freunden, lernt dann in einem Porno-Kino den 42-jährigen Sexarbeiter Ronaldo (Ricardo Teodoro) kennen.
So entwickelt sich nicht nur eine Liebesbeziehung, sondern Ronaldo führt Wellington auch in das Milieu ein, in dem der junge Mann bald unter dem Namen "Baby" zu arbeiten beginnt. Doch die Beziehung ist konfliktbeladen, denn Ronaldo ist einerseits eifersüchtig auf jeden Kontakt Wellingtons, andererseits ist sich dieser unsicher, ob Ronaldo wirklich der richtige Partner für ihn ist und sehnt sich zudem weiterhin nach einer Wiederbegegnung mit seiner Mutter.
Wenn die Handlung etwas unentschlossen mäandert statt sich klar in eine Richtung zu entwickeln, passt das gut zur Unsicherheit und Orientierungssuche Wellingtons. Durch diese Test- und Suchbewegungen und das unverbrauchte und natürliche Spiel von João Pedro Mariano gelingt Caetano ein dichtes Porträt des auf sich selbst gestellten jungen Mannes.
Mit Wellington als Leitfigur kann Caetano, der seit vielen Jahren in São Paulo lebt und viele Szenen auf den Straßen drehte, gleichzeitig ein ebenso stimmiges wie ungeschöntes, aber empathisches Bild der queeren Community der mit 12 Millionen Einwohner:innen größten Stadt Brasiliens zeichnen. Ganz auf diese Szene konzentriert sich der Film, macht dabei aber auch die Liberalisierung der letzten Jahrzehnte sichtbar, die Ronaldo auch dezidiert anspricht.
Sind nämlich Ronaldo und auch der wohlhabende Alexandre, mit dem Wellington auch eine Beziehung beginnt, vor Jahren aus Angst vor Anfeindung noch heterosexuelle Ehen eingegangen, so haben sie sich inzwischen von ihren Partnerinnen getrennt und stehen zu ihrer Homosexualität. Ronaldo hat dabei immer noch eine gute Beziehung zu seiner Ex-Frau, die mit seinem Sohn nun mit einer Frau zusammenlebt.
Dicht beschwört Caetano, der "Baby" als Hommage an die Filme von Wong Kar-Wai und die Filme der 1990er Jahre von Pedro Almodóvar und Claire Denis sieht, dabei mit einer ausgeprägten Farb- und Lichtdramaturgie die Lebenslust, Sehnsüchte und Leidenschaft, aber auch die Melancholie in dieser Community. Das kräftige Rot einer Jacke, von Boxhandschuhen oder einer Decke oder das intensive Blau von T-Shirts setzen hier ebenso Akzente wie die Blicke auf die nächtlichen von Straßenlampen und Neonlicht erhellten Straßen und kehren die Gefühle der Protagonist:innen nach außen.
Zerrissen zwischen der Sehnsucht nach seiner biologischen Familie, vor allem nach seiner Mutter, seiner Beziehung zu Ronaldo und seinen queeren Freunden muss Wellington hier seinen eigenen Weg finden. Spürbar wird in einem Gelegenheitsjob als Drogendealer und einer beklemmenden Polizeiszene aber auch, wie bedroht dieses Leben am Rande der Gesellschaft immer wieder ist. Dennoch verbreitet Caetano die Hoffnung, dass sein Protagonist eine emotionale Heimat und einen Weg in die Zukunft finden wird.
Baby Brasilien / Frankreich / Niederlande 2024
Regie: Marcelo Caetano mit: João Pedro Mariano, Ricardo Teodoro, Ana Flavia Cavalcanti, Bruna Linzmeyer Länge: 107 min.
Läuft derzeit in den Schweizer Kinos, z.B. im Kinok St. Gallen.
Trailer zu "Baby"
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