Clara hat den Sprung von der ostdeutschen Provinz zu einer Karriere an der Berliner Uni geschafft, doch glücklich ist sie damit nicht geworden. - Unaufgeregt, aber mit genauem Blick für Milieus und Figuren erzählt Annika Pinske in ihrem Debüt von der Differenz zwischen Stadt und Land und von Heimatverlust.
Man spürt in jeder Szene, dass Annika Pinske genau weiß, wovon sie erzählt und viel eigene Erfahrungen in ihren Abschlussfilm für die Deutsche Film- und Fernsehakademie Berlin eingeflossen sind. In der 39-jährigen Clara, die von Anne Schäfer zurückhaltend, aber gerade dadurch intensiv gespielt wird, kann man teilweise ein Alter Ego der 40-jährigen Regisseurin sehen, auch wenn Pinske selbst in Frankfurt / Oder aufgewachsen ist.
Im bildungsbürgerlichen Uni-Milieu ist Clara, die aus einfachen ländlichen Verhältnissen stammt eine Außenseiterin. Bei der Verabschiedung eines emeritierten Professors kann sie nicht auf eine akademische Tradition in der Familie verweisen, sondern erfindet diese, um sich nicht zu blamieren. Um nicht selbst bis zur Pensionierung Assistentin eines Professors zu bleiben, sondern ihre Position im Uni-Betrieb zu stärken, arbeitet sie an der Doktorarbeit.
Dass sie als Thema Hegels Theorie der Freiheit gewählt hat, verweist auch auf ihr eigenes Streben nach Selbstbestimmung. Dieses äußert sich auch in der Beziehung zu ihrem Studenten Max, mit dem sie sich im Hotel trifft, den sie sonst aber verheimlicht. Während ihre Tochter bei ihrem Ex-Mann (Ronald Zehrfeld) lebt, der eine neue Familie gegründet hat, lebt sie selbst in einer Wohngemeinschaft.
So unabhängig Clara wirkt, so übt doch ihre Doktormutter Margot (Judith Hofmann) immer wieder Druck auf sie aus. Bald gibt sie sich als Freundin, dann nützt sie ihre dominante Position wieder aus. Kein Wunder ist es da, dass eine Gastdozentin (Sandra Hüller), die einst Studentin Margots war, diese als bösen Menschen und furchtbare Professorin beschimpft.
Der genauen Schilderung dieses universitären Berliner Milieus steht im zweiten Teil die ostdeutsche Provinz gegenüber, in die Clara am Wochenende mit ihrer 15-jährigen Tochter zur Feier des 60. Geburtstags ihrer Mutter fährt. Während sie im Uni-Milieu aufgrund ihres fehlenden akademischen Backgrounds Außenseiterin ist, ist sie es in ihrem Heimatdorf gerade aufgrund ihrer Uni-Laufbahn.
Der gehobenen Verabschiedung des Professors steht hier eine dörflich-proletarische Geburtstagsfeier im Garten gegenüber. Auch wenn die Schilderung mit reichlichem Alkoholgenuss, sexistischen Witzen der Männer und Schlägen für ein Kind etwas das Klischeebild der Provinz bedient, gelingt Pinske insgesamt ein stimmiges und atmosphärisch dichtes Bild dieses Milieus.
Claras Aufbruch steht dabei auch der Stillstand ihrer Mutter Inge (Anne Kathrin Gummich) gegenüber. Nie ist diese wohl wirklich aus dem Dorf weggekommen, ist als Hausfrau alt geworden. Kreuzworträtsel scheinen ihr einziges Hobby zu sein, nichts weiß sie auf Claras Frage, was sie bis zum 70. Lebensjahr noch erreichen will, zu antworten.
Die Großstadterfahrungen machen Clara auch bewusst, wie hier auf dem Land mehr geschwiegen als kommuniziert wird und lieber übers Wetter geredet wird als persönliche Gefühle zu artikulieren. Und doch wird auch ihre Bindung zu diesem Heimatort spürbar, ihr Schmerz über den Verlust dieser Bindung und in der Wiederbegegnung mit dem Dorfgastwirt Marcel (Max Riemelt) ihre melancholische Erinnerung an eine Jugendliebe.
Doch auch wenn Clara ganz im Gegensatz zum Thema ihrer Dissertation gefangen und zerrissen zwischen zwei Welten wirkt, so gönnt ihr Annika Pinske am Ende doch ein glückliches Gesicht, wenn sie ihre Tochter bei einem Konzert mit ihrer Tuba spielen sieht.
Nichts Dramatisches und nichts Spektakuläres passiert in "Alle reden übers Wetter", aber beeindruckend ist dieses Debüt im genauen Blick auf die unterschiedlichen Milieus, deren Differenz auch der Wechsel zwischen Hochsprache und Dialekt unterstreicht, in den genau gezeichneten und stark gespielten Charakteren und in der Unaufgeregtheit der Inszenierung.
Wie Lars Jessens "Mittagsstunde" thematisiert so auch Pinske ganz aus der genauen Schilderung des Alltäglichen heraus das Spannungsfeld von Stadt und Land, den Verlust von Heimat und die Sehnsucht nach Freiheit auf der einen Seite, aber gleichzeitig auch nach Zugehörigkeit und Verwurzelung.
Dass Pinske dabei keine Botschaft laut vor sich herträgt, sondern sich auf genaue Beobachtung beschränkt und es den Zuschauer:innen überlässt, Schlüsse zu ziehen und das Gesehene zu beurteilen, gehört zu den weiteren Qualitäten dieses gerade in seiner Schmucklosigkeit und Einfachheit schönen Films. Nicht zuletzt überzeugt "Alle reden übers Wetter" aber auch schauspielerisch mit der Mischung von unbekannten Schauspieler:innen und den deutschen Stars Sandra Hüller, Ronald Zehrfeld und Max Riemelt in Nebenrollen.
Alle reden übers Wetter Deutschland 2022 Regie: Annika Pinske mit: Anne Schäfer, Anne-Kathrin Gummich, Judith Hofmann, Marcel Kohler, Max Riemelt, Emma Frieda Brüggler, Sandra Hüller Länge: 89 min.
Wird vom Spielboden Dornbirn im Rahmen der Kooperation mit dem Crossing Europe Filmfestival Linz am Freitag, den 7.4. und am Dienstag, den 18.4. jeweils um 19.30 Uhr gezeigt.
Trailer zu "Alle reden über das Wetter"
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