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  • AutorenbildWalter Gasperi

Mittagsstunde


In seiner Verfilmung von Dörte Hansens gleichnamigem Bestseller erzählt Lars Jessen, verpackt in eine Familiengeschichte, vom Verschwinden dörflicher Strukturen in Norddeutschland. – Ein unaufgeregtes, aber stimmiges Drama, das atmosphärisch dicht im Milieu verankert und von einem großartigen Ensemble getragen wird.


Schon vor dem Vorspann spannt Lars Jessen in kurzen Szenen mit Zeitinserts den Bogen von 1965 über 1976 bis 2012. Verdichtet wird hier schon der Wandel des fiktiven nordfriesischen Dorfes Brinkebüll sichtbar, der im Folgenden weiter ausgeführt wird, gleichzeitig wird die junge, geistig etwas zurückgebliebene Marret Feddersen (Gro Swantje Kohlhof) und ihre Eltern Sönke (Peter Franke) und Ella (Hildegard Schmahl), die das Dorfgasthaus führen, vorgestellt.


Die Erzählperspektive bestimmt aber Ingwer Feddersen (Charly Hübner), der Uni-Dozent in Kiel ist und ein Sabbatical nimmt, um sich um seine "Eltern" zu kümmern, die eigentlich seine Großeltern sind. Denn Marret, die in den 1960er Jahren von einer Zufallsbekanntschaft ungewollt schwanger wurde, war mit der Erziehung des Kindes völlig überfordert, sodass ihre Eltern sich um den kleinen Ingwer kümmerten. Marret verschwand aber eines Tages aus dem Dorf und bleibt die große Leerstelle im Film.


Die Rückkehr des etwa 50-jährigen Ingwer in sein Heimatdorf, löst immer wieder Erinnerungen aus. Leichthändig und bruchlos wechselt Jessen so zwischen Gegenwart und 1960er bis 1980er Jahren. Sichtbar wird in diesem Aufeinanderprallen der Zeiten der Wandel des Dorfes: Bäckerei und Lebensmittelladen sind verschwunden, der mächtige Baum auf dem Dorfplatz wurde gefällt, das Dorfgasthaus der Eltern steht vor der Schließung, über die Dorfstraße donnern LKW und auch eine so genannte "Flurbereinigung" fand statt. Auch vor einem prähistorischen Hügelgrab machte man dabei bei der Einebnung der Felder zwecks Erhöhung der Rentabilität nicht halt.


Geblieben von der Vergrößerung der Landwirtschaft ist vor allem ein Fußabdruck Marrets, den sie vor ihrem Verschwinden auf der damals frischen Betonplatte der Hauseinfahrt als letztes zurückließ. Ein Relikt aus vergangenen Zeiten sind aber auch die vielfältigen Heidepflanzen, die sie in ihrem Zimmer gesammelt hat. Denn während sich im Dorf alles verändert hat, scheint im Gasthof und in Marrets Zimmer die Zeit seit 50 Jahren stehen geblieben zu sein.


Die Rückkehr bringt für Ingwer aber nicht nur Erinnerungen, sondern auch schwere Belastungen mit der Fürsorge der dementen Mutter und dem gehbehinderten Vater. Letzteren beschäftigt vor allem die bevorstehende Gnadenhochzeit, also das 70-jährige Ehejubiläum, das kaum jemand erlebt.


Fürsorge für die alten und kranken Eltern werden so ebenso thematisiert wie Landflucht zwecks Studiums. Denn eigentlich hätte Ingwer natürlich die Dorfwirtschaft übernehmen sollen, entschied sich auf Rat des Dorflehrers aber gegen den Willen des Vaters für Gymnasium und Studium.


Unaufgeregt, aber sehr stimmig entwickelt Lars Jessen diese Milieuschilderung und Familiengeschichte. Atmosphärische Dichte und Authentizität gewinnt "Mittagsstunde" nicht nur durch die bestechende Einbettung der Handlung in Milieu und unterschiedliche Zeiten durch die großartige Kameraarbeit von Kristian Leschner und die Ausstattung von Dorle Bahlburg, sondern auch durch die Verwendung des in dieser zwischen Kiel und Husum gelegenen Gegend immer noch gesprochenen Plattdeutsch. Unbedingt in der zwischen Platt- und Hochdeutsch wechselnden, untertitelten Originalfassung und nicht in der durchgängig hochdeutschen Fassung sollte man diesen Film daher sehen.


Auch im Wechsel zwischen diesem Dialekt und Hochdeutsch wird nämlich das Spannungsfeld von Heimat, in der man aufgewachsen ist, und identitätslosem Großstadtleben bewusst. So muss Ingwer auch langsam seine Vergangenheit aufarbeiten und seine Identität finden, um frei in die Zukunft blicken zu können.


Unterstützt wird der ruhige Erzählrhythmus, der viel Melancholie über das Verschwinden des Alten aufkommen lässt, durch ein perfekt gewähltes Ensemble. Nicht weniger überzeugend sind hier Peter Franke und Hildegard Schmahl als altes Paar wie Rainer Bock und Gabriela Maria Schmeide in früheren Jahren. Eindrücklich vermittelt Schmahl die Trauer über das Verschwinden Marrets und die lebenslange Hoffnung auf ihre Rückkehr, während für Frankes / Bocks Vater immer der wirtschaftliche Aspekt im Zentrum steht.


Wunderbar wortkarg agiert nicht nur dieses Paar, sondern auch Charly Hübner als Ingwer. Treffend wird damit die knorrige Landbevölkerung gezeichnet, aus der Gro Swantje Kohlhofs unbefangene Marret heraussticht. Im Gegensatz zur Zurückhaltung der anderen Dorfbewohner agiert sie offen und lebensfroh. Leidenschaftlich singt sie in der Dorfband oder rennt nach einem Besuch der Zeugen Jehowas und dem Blick auf Kampfjets am Himmel voll Angst vor dem Weltuntergang durch das Dorf.


Zurückhaltend und ruhig inszeniert Jessen, aber im genauen Blick auf die Veränderung dieser ländlichen Welt und seine Charaktere entwickelt sich "Mittagsstunde" zu einem leisen Drama, das eindrücklich von Verlust und Heimat, von Identität und Zugehörigkeit erzählt und sich langsam, aber nachwirkend ins Herz der Zuschauer*innen schleicht.



Mittagsstunde Deutschland 2022 Regie: Lars Jessen mit: Charly Hübner, Lennard Conrad, Peter Franke, Rainer Bock, Hildegard Schmahl, Gabriela Maria Schmeide, Gro Swantje Kohlhof Länge: 96 min.


Läuft in den österreichischen und deutschen Kinos


Trailer zu "Mittagsstunde"


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