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60. Solothurner Filmtage: Alleinerziehende Mütter, reisende Männer

Autorenbild: Walter GasperiWalter Gasperi
Starke Spielfilme bei den 60. Solothurner Filmtagen: "Les courageux" und "Biscuit Tin Blues"
Starke Spielfilme bei den 60. Solothurner Filmtagen: "Les courageux" und "Biscuit Tin Blues"

Während die alleinerziehende Mutter in Jasmin Gordons "Les courageux" alles unternimmt, um ihren Kindern vorzutäuschen, dass sie alles im Griff hat, verliert sich die Protagonistin von Lorenz Suters "Norma Dorma" nach dem Verschwinden ihres Mannes zunehmend in einer Traumwelt. Maria Nicollier und Jack Rath schicken dagegen in "Road´s End in Taiwan" bzw. "Biscuit Tin Blues" ungleiche Männer auf eine Reise.


Vom ersten Moment an ist in Jasmin Gordons "Les courageux" die Anspannung und Nervosität der alleinerziehenden Jule (Ophélia Kolb) spürbar. Ansatzlos wirft die in Los Angeles geborene schweizerisch-US-amerikanische Filmemacherin die Zuschauer:innen in ihr Langfilmdebüt hinein und ist hautnah dran, wenn die Mutter mit ihren drei Kindern in ihrem Wagen durchs Wallis unterwegs ist. Dass sie sich nicht unbedingt an Regeln hält, wird schon klar, wenn sie trotz des Einwands ihrer etwa zwölfjährigen Tochter Kirschen von einem Baum klaut.


Sie wolle nur kurz etwas einkaufen, erklärt sie, nachdem sie die Kinder in das Restaurant eines Supermarkts gebracht hat. Doch dann kommt sie nicht zurück. Als die Bedienung die Security ruft, fliehen die drei Kinder und schlagen sich allein nach Hause durch.


Was die Mutter, die erst nachts zurückkehrt, den ganzen Tag gemacht hat, bleibt offen und immer wieder arbeitet Jasmin Gordon mit solchen Auslassungen. Spannung entwickelt ihr Sozialdrama auch dadurch, dass auf Erklärungen verzichtet wird und erst sukzessive und nur bruchstückhaft Einblick in die Situation der Mutter und ihrer Kinder geboten wird.


Spätestens wenn Jule mit ihnen aber ein zum Verkauf stehendes Haus besichtigt, das angeblich ihr neues Heim werden soll, das Quartett aber flüchten muss, als der Makler mit echten Interessenten auftaucht, wird klar, dass diese Mutter ihren Kindern immer wieder Versprechungen macht, die sie nicht halten kann.


Die Ambivalenz dieser von Ophélia Kolb mit Verve gespielten Figur gehört zu den großen Stärken von "Les courageux". Indem Gordon aus ihrer Perspektive erzählt, zieht sie die Zuschauer:innen auf ihre Seite, macht ihre Liebe zu ihren Kindern erfahrbar und lässt, um sie zittern, auch wenn sie Gesetze in zunehmend massiverem Maß übertritt.


Atmosphärisch dicht verankert in einem tristen von Supermarktparkplätzen, Tankstellen und Landstraßen bestimmten Wallis, entwickelt sich "Les courageux" zum eindrücklichen Bild eines Lebens am Rande des Existenzminimums in der reichen Schweiz. Wohlweislich verzichtet Gordon in diesem Sozial- und Familiendrama, das an Ursula Meiers "L´enfant d´en haut" ("Winterdieb") erinnert auf Schuldzuweisungen, sondern bleibt auch den Behörden gegenüber ambivalent.


Mit den Mitteln des Genrekinos erzählt dagegen Lorenz Suter in "Norma Dorma" von den Auswirkungen einer überraschenden Trennung und überfordernder Mutterschaft. "Bin nicht weg, komme wieder" steht zwar auf dem Zettel am Küchenkasten, doch Henri kehrt nicht zurück und Norma (Maria Guerrini) muss sich allein um den kleinen Lenny kümmern.


Von der Wohnung hetzt sie zur Spielgruppe und weiter geht es zum Verlag für verschwörungstheoretische Schriften, in dem sie als Lektorin arbeitet. Wirklich bei der Sache ist sie aber nicht, sondern gleitet immer wieder in Träume ab, in denen sie glaubt, von der Kante eines Hochhauses in die Tiefe zu stürzen.


Vom Kapitel "Wachtraum" über "Tagtraum" bis zu "Tiefschlaf" verstärken sich diese Träume sukzessive. Bald sieht Norma sich erneut schwanger, ein Traumbaby Leonora kommt zu Lenny dazu und statt in ihrer vertrauten Wohnung lebt sie in einem rosaroten Turm im Hochgebirge oder streift durch eine in Rosa getauchte Allee.


Die visuelle Gestaltung beeindruckt ebenso wie das Sounddesign, doch echte Spannung will nicht aufkommen, denn kaum Zugang findet man zu der von Suters Ehefrau Maria Guerrini gespielten Protagonistin und auch die an die Alpträume David Lynchs erinnernde verrätselte und kaum logisch aufschlüsselbare Erzählweise hält auf Distanz.  


Großes Vergnügen bereitet dagegen Jack Raths Roadmovie "Biscuit Tin Blues". Dass die Asche einer Verstorbenen an einem Sehnsuchtsort verstreut werden soll, ist zwar alles andere als eine originelle Ausgangssituation, doch das stört kaum, denn die Qualitäten dieses Roadmovies liegen in den Details.


Wenig erfreut zeigt sich der in Berlin lebende Australier Kell zwar zunächst vom überraschenden Besuch seines Ex-Bandkollegen Joe, erklärt sich aber doch bereit mit ihm an den Rhein zu fahren, um die Asche ihrer ehemaligen Leadsängerin Vif bei der Loreley zu verstreuen. Witz entwickelt "Biscuit Tin Blues" zunächst schon einmal durch die beiden wunderbar harmonierenden und vom australisch-schweizerischen Regisseur und Michael Ferguson mit sichtlichem Vergnügen gespielten Protagonisten. In bester Indie-Kino Manier ungekünstelt wirkt, wie sie sich mehrfach streiten, dann doch wieder versöhnen, und langsam werden hinter der Oberfläche auch belastende Krankheiten sichtbar.


Dazu kommen der Sprachassistent des gemieteten E-Autos, der immer wieder für Probleme sorgt, hinreißende Sprachspielereien durch den fließenden Wechsel zwischen Englisch und Deutsch und die gewohnten witzigen Begegnungen und Erlebnisse unterwegs. So überträgt sich die in jeder Szene spürbare Leidenschaft und das Vergnügen, mit dem dieses Road- und Buddiemovie gedreht wurde, direkt auf die Zuschauer:innen und macht es zu einem herzerwärmenden, aber auch berührenden Vergnügen.


Potential hat durchaus auch Maria Nicolliers "Road´s End in Taiwan", wenn ein gut 30-jähriger Genfer in den Fernen Osten aufbricht, um das Erbe seines Vaters anzutreten, den er schon lange tot wähnte. Nicht genug damit muss er vor Ort auch noch erfahren, dass er einen Halbbruder hat und dass ein weiterer Halbbruder und die Witwe des Verstorbenen aufgespürt werden müssen, um das Erbe anzutreten. So begeben sich Damien und der etwas ältere Steven, der seinen europäischen Halbbruder zunächst nicht ausstehen kann, auf eine Fahrt durch den Inselstaat.


Zwar entführt dieses Roadmovie dabei auch in die im Kino wenig präsente taiwanesische Bergwelt, doch abgesehen von den landschaftlichen Schönheiten verläuft die Reise sehr formelhaft und auch die kulturellen Gegensätze zwischen dem Westschweizer und dem Taiwanesen werden nicht ansatzweise ausgeschöpft. Vorhersehbar ist auch, dass sich die beiden ungleichen Halbbrüder im Laufe der Reise anfreunden und dass langsam Geheimnisse um den Verstorbenen gelüftet werden.


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Weitere Informationen zum Programm der 60. Solothurner Filmtage finden Sie hier.

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