
Vielfältig sind die Spielarten des Dokumentarfilms. Bei den 60. Solothurner Filmtagen laufen mit Beat Oswalds, Lena Hateburs und Samuel Wenigers "Tamina – Wann war es immer so?", Filippo Demarchis "Osteria all´undici" und Eleonora Camizzis "Bilder im Kopf" drei Filme, in denen sich die Filmemacher:innen selbst stark ins Spiel bringen. Zijad Ibrahimovic fokussiert dagegen in "Il ragazzo della Drina" auf einem Bosnien-Heimkehrer, der seine Erinnerungen und Gedanken offenbart, während im mittellangen "Galaxi. Urnäsch 3000" ein junges Kollektiv distanziert und nüchtern Alltagsmomente aus dem Appenzell aneinanderreiht.
Der Wolf ist zurück in Europa und als ein Hotspot in dieser Beziehung gilt das im Kanton St. Gallen gelegene Taminatal, in dem immer wieder Wölfe gesichtet werden. Auch Filmemacher Beat Oswald bricht – begleitet von Lena Hatebur und Samuel Weniger – in "Tamina - Wann war es immer so?" dorthin auf, um einen Wolf zu sichten.
Statt auf Wölfe stößt er aber nur auf Menschen. Da gibt es den Jäger, der Dezimierung des Hirschbestands durch die Wölfe beklagt, ebenso wie Tourist:innen, die wie Oswald einen Wolf sichten möchten, oder die Wirtin des Gasthauses in Vättis, rebellische Teenager, für die es in der Abgeschiedenheit des Tals eine Schule gibt, oder einen Mitarbeiter des Stausees Gigerwald, der die Funktion des Pumpkraftwerks erklärt.
In großartigen Bildern fängt das Trio die Schönheit der Landschaft ein von prächtigen Wäldern über gewaltige Felssprengungen bis zu tosenden Wasserfällen, gleichzeitig reflektiert Oswald dazu im Voice-over nicht nur über das Verhältnis von Mensch und Wolf, sondern auch über die gefährdete Zukunft seiner Kinder aufgrund des Klimawandels, den Wandel des Tals durch Kraftwerks- und Straßenbau, aber auch über das Wesen des Menschen und sein permanentes Bestreben Natur und Tiere zu domestizieren und zu zivilisieren.
Im ruhigen Fluss der Bilder ergibt sich so ein bildschöner essayistischer Dokumentarfilm, der einerseits die Schönheit der Natur feiert, aber auch ihren ständigen Wandel und ihre Bedrohtheit durch menschliche Eingriffe spürbar macht, andererseits über die unaufgeregt formulierten Gedanken Oswalds über das Menschsein und unseren Umgang mit der Natur nachdenken lässt.
Filippo Demarchi nahm dagegen ein Burnout zum Anlass, um sich in seinem Leben völlig neu zu orientieren. Der ausgebildete Regisseur, der sich über Monate in seine Wohnung im Tessin zurückzog, nur noch Bücher las und kaum mehr etwas aß, bemühte sich nach seiner Entlassung aus der Klinik um einen Job als Kellner in einer Osteria.
Mit seiner Bewerbung lässt Demarchi nun "Osteria all´undici" beginnen. Neugierig und empathisch befragt er in der Folge andere Mitarbeiter:innen dieses Sozialunternehmens über ihre psychische Störungen und gibt sukzessive auch tieferen Einblick in seine Krankheit.
In diesem Blick auf Augenhöhe auf die Mitarbeiter:innen und in der Innenperspektive seiner eigenen Situation berührt dieser gerade einmal 63-minütige Dokumentarfilm, der auch von einem Heilungsprozess erzählt. So kann "Osteria all´undici auch einen Beitrag zur Entstigmatisierung von psychischen Erkrankungen leisten.
Nicht zu übersehen ist aber auch ein Widerspruch, denn der am Beginn erklärte Rückzug vom Filmemachen war wohl nie wirklich beabsichtigt, da Demarchi ja, beginnend mit seiner Bewerbung als Kellner, seine Erfahrungen und Begegnungen mit der Kamera festhielt und wohl von Anfang an als Dokumentarfilm anlegte.
Radikal persönlich ist auch Eleonora Camizzis "Bilder im Kopf", der mit dem mit 20.000 Schweizer Franken dotierten Preis "Visioni" für den besten ersten oder zweiten Film ausgezeichnet wurde. Ebenso minimalistisch wie künstlich ist die Anlage, wenn die Regisseurin in einem gleissend weißen Raum, der sich später aber als Studiokulisse entpuppt, in weißer Kleidung ihren Vater über seine psychische Krankheit und seine Lebenserfahrungen befragt.
Schon vor 30 Jahren wurde bei ihm "paranoide Schizophrenie" diagnostiziert, aber die Tochter möchte nicht nur wissen, was sich hinter diesem Fachterminus konkret verbirgt, sondern fördert auch traumatische Erinnerungen als illegal in die Schweiz geschmuggeltes Kind italienischer Gastarbeiter zu Tage.
Gerade durch das reduzierte Setting und die Beschränkung auf Vater und Tochter stellt "Bilder im Kopf" große Nähe her, berührt durch die offene und manchmal auch schwierige Kommunikation und bewahrt trotz des ernsten Themas Leichtigkeit, denn die Dinge sind - wie der Vater am Schluss feststellt - nun mal so, wie sie sind.
Regisseur Zajid Ibrahimovic hält sich in "Il ragazzo de Drina" dagegen zurück und überlässt den Raum ganz seinem Protagonisten Irvin. Als Fünfjähriger hat dieser mit Mutter und Geschwistern die heimatliche Gegend um Srebrenica verlassen, während sein Vater blieb und ermordet wurde. 25 Jahre später kehrt Irvin zurück, denn nur so könne er das Kriegstrauma verarbeiten.
In den Dörfern, in denen einst 200 Menschen lebten, wohnen nun nur noch vier. Alle anderen kamen im Krieg um oder zogen weg. Irvin will aber mit Rodung des Landes und dem Bau von Blockhütten einen Neubeginn setzen, gleichzeitig brechen aber auch immer wieder Kriegserinnerungen durch.
Eine verfallene Mühle erinnert ihn so an ein Massaker, dem nur ein Bosnier entkam, und immer wieder quält ihn der Gedanke, dass die Leiche seines Vaters nie gefunden und identifiziert wurde, während die Körperteile seines Onkels in fünf verschiedenen Gräbern gefunden wurden.
Vom abgeschiedenen herbstlichen Wald führt der Weg Irwin, dem der Film in ruhigem Rhythmus folgt, so auch in die Srebrenica Gedenkstätte. Doch trotz der intensiven Evokation von Kriegsgräueln und nicht verheilten Wunden, die durch die Konzentration auf das persönliche Schicksal Irvins und seiner Familie erschütternd in Erinnerung gerufen werden, macht "Il ragazzo della Drina" doch Hoffnung, wenn am Ende wieder Irwins Rodung der Ebene und der Bau der Hütten ins Zentrum rücken und eine Schafherde ruhig über die Wiese streift.
Einen neutralen Blick von Außen kennzeichnet dagegen den mittellangen Dokumentarfilm "Galaxi. Urnäsch 3000" von Nina Fritz, Lasse Linder, Felix Scherer und Lola Scurlock. Die vier Student:innen der Zürcher Hochschule für Künste (ZHdK) stellen darin den Reflexionen eines Astronomen in der Sternwarte von Urnäsch über die Unendlichkeit des Kosmos und der Zeit in kurzen, aber prägnanten Szenen den Alltag im kleinräumigen Appenzell gegenüber.
Tradition und Moderne prallen dabei aufeinander, wenn dem Männergesangsverein Jugendliche, die in einem Schuppen über eine Karriere als Rapper träumen, ebenso gegenüberstehen wie einer Frauenturnriege zwei rauchende Teenager, die den Anpassungsdruck in der ländlichen Region ansprechen. Bald begleitet die Kamera lange die Geburt eines Kalbs, dann folgt sie einem Gespräch über die Modernisierung des lokalen Hotels, dokumentiert die Tradition des Silvesterklausens oder kontrastiert die unberührten Berglandschaft des Alpsteins mit der menschenleeren nächtlichen Dorfstraße.
So kurz und klein die kommentar- und vielfach wortlosen Szenen sein mögen, sie fügen sich doch zu einem stimmigen Bild des Lebens in dieser Region und regen zum Nachdenken über den menschlichen Alltag und eine mögliche Zukunft an.
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