Auch wenn die heurigen Solothurner Filmtage nur online stattfanden, so boten sie doch mit Filmen wie Milo Raus "Das neue Evangelium", Mano Khalils berührender Kindergeschichte "Nachbarn" oder Sonja Wyss´ Aufarbeitung ihrer Familiengeschichte in "Farewell Paradise" aufregendes Kino.
Zehn Dokumentarfilme und zwei Spielfilme konkurrierten bei den heurigen Solothurner Filmtagen um den mit 60.000 Franken dotierten Prix de Soleure. Mit Andrea Stakas "Mare" zeichnete die aus der Theaterdirektorin Anne Bisang, dem Regisseur Markus Imhoof und der Schriftstellerin Meral Kureyshi bestehende Jury ein Frauenporträt aus, das schon letztes Jahr auf der Berlinale und anschließend in den Schweizer Kinos lief.
Ebenfalls schon in den Schweizer Kinos lief Gitta Gsells "Beyto", der mit dem Prix du Public ausgezeichnet wurde, während der erstmals vergebene Preis "Opera prima" für das beste Erstlingswerk an Stefanie Klemms starkes Drama "Von Fischen und Menschen" ging, das letzte Woche auch im Wettbewerb des Filmfestivals Max Ophüls Preis lief.
Aber auch neben Klemms Debüt gab es spannende Filme zu entdecken. Aufregend verbindet beispielsweise Milo Rau in "Das neue Evangelium" eine Inszenierung der Passionsgeschichte Christi im süditalienischen Matera, in dem schon Pier Paolo Pasolini und Mel Gibson ihre Jesus-Filme drehten, mit der "Revolte der Würde" von Flüchtlingen und Kleinbauern gegen Ausbeutung und soziale Ungerechtigkeit und liefert mit Regieanweisungen und Proben zum Jesus-Film gleichzeitig auch noch ein Making of zu seinem Film.
Indem sich so Inszenierung und Realität, Dokumentarfilm und Spielfilm, aber auch historische biblische Geschichte und Gegenwart immer wieder durchdringen, die Aktualität auch durch die Besetzung der Rollen im Bibelfilm teilweise mit Flüchtlingen und teilweise mit Einwohnern Materas betont wird, entsteht nicht nur ein vielschichtiger Mix, sondern packend wirft Rau auch Fragen nach der Aktualität des Evangeliums und einem christlichen Verhalten angesichts sozialer Missstände und Not auf.
Im Gegensatz zu diesem kühnen Hybrid bietet Michele Pennetta mit seinem Dokumentarfilm "Il mio corpo" ruhig beobachtendes Kino. Ohne jeden Kommentar folgt der in der Schweiz lebende Italiener lange getrennt den Wegen des zwölfjährigen Oscar, der mit seinem Vater Schrott sammelt, und dem afrikanischen Migranten Stanley, der sich mit Gelegenheitsjobs durchschlägt.
Mit Informationen geizt Pennetta dabei geradezu. Annehmen kann man zwar von Beginn an, dass die lichtdurchfluteten sommerlich heißen und verdorrten Landstriche, die in starken Bildern eingefangen werden, irgendwo im Süden Italiens liegen. Erst gegen Mitte des Films erhält man aber die Bestätigung, dass man sich auf Sizilien befindet. Nichts erfährt man aber auch über die Geschichte von Oscars Familie, die Ursachen für ihre Armut und über das Schicksal des Nigerianers Stanley.
Diametral entgegengesetzt zu gängigen TV-Reportagen ist dieser Dokumentarfilm damit, lässt aber mit seinem geduldigen und einfühlsamen Blick intensiv in diese Lebenswelten am Rande oder vielmehr schon außerhalb der Gesellschaft eintauchen, lässt erfahren, was Armut ist und wie für Oscar die Kindheit höchstens in den Fahrradfahrten durch die öde Landschaft stattfindet. Nur in diesen Momenten scheint der Junge befreit vom autoritären Vater und den bedrückenden familiären Verhältnissen durchatmen zu können.
Und so dokumentarisch auch lange der Blick ist, so mischt sich am Ende doch unübersehbar Inszenierung in "Il mio corpo", wenn Pennetta die beiden getrennt erzählten Geschichten doch noch zusammenführt. Wortlos begegnen sich hier zwei, mit denen es das Leben nicht gut meint, die von Veränderung träumen, sich aber doch in ihr Schicksal fügen, die Welt und die Umstände ertragen müssen, in die sie geworfen sind.
Eine im Grunde bedrückende, von eigenen Erfahrungen inspirierte Kindheitsgeschichte erzählt der in Syrien geborene und in der Schweiz lebende Kurde Mano Khalil in seinem Spielfilm "Nachbarn", lockert sie aber durch spitzbübischen Humor und die Empathie seiner Protagonisten immer wieder auf.
Im Zentrum des in den 1980er Jahren in einem Dorf an der syrisch-türkischen Grenze spielenden Films steht der von Sehed Khalil – einem Großneffen des Regisseurs – mit viel Einfühlungsvermögen gespielte sechsjährige Sero. Dem Miteinander zwischen Seros kurdischer Familie und der benachbarten jüdischen Familie steht der Nationalismus des Lehrers gegenüber, der nicht nur kurdisch im Unterricht verbietet, sondern die Kinder auch zu fanatischen Antisemiten erziehen will.
Auch der Terror des Regimes von Diktator Hafiz al-Assad wird im Schicksal eines Onkels von Sero sichtbar und auch an das Leid, das die willkürliche Grenzziehung der Westmächte auslöste, durch die kurdische Familien zerrissen wurden, wird erinnert. Und dennoch bewahrt diese ruhig und rund erzählte Kindheitsgeschichte, die im irakischen Kurdistan gedreht wurde, nicht zuletzt durch die von warmen Brauntönen bestimmten, sonnendurchfluteten Bilder der kargen Grenzregion Leichtigkeit, plädiert unaufgeregt, aber eindringlich für Mitmenschlichkeit und erteilt Hass und Feindbildern eine Absage.
Konsequent auf ihrer Familie fokussiert dagegen Sonja Wyss in ihrem Dokumentarfilm "Farewell Paradise". Steht am Beginn ein farbiges Foto, das von familiärem Glück an einem Strand auf den Bahamas zeugt, so sieht man in der Folge, unterbrochen von wenigen kalten Winterbildern, Vater und Mutter sowie die drei Schwestern der Regisseurin in einer halbnahen Einstellung vor einer grauen Wand. In Gesprächen, in denen sich Wyss durchaus auch selbst ins Spiel bringt, arbeitet sie chronologisch die verstörende Geschichte ihrer dysfunktionalen Familie auf.
Hals über Kopf verließ die Mutter mit ihren vier Töchtern nämlich ihren Mann, der auf den Bahamas arbeitete, legte selbst einen Zwischenstopp in New York ein und ließ die 12-jährige Kathrin mit ihren beiden jüngeren Schwestern alleine in die Schweiz zurückfliegen. Landeten die Mädchen zunächst bei Pflegefamilien, so wurden sie dann doch wieder von der Mutter aufgenommen. Mit der Rückkehr des Vaters stellte sich auch wieder ein Familienleben ein, doch bald zerbrach die Ehe endgültig.
Radikal persönlich und schonungslos offen ist dieser Dokumentarfilm. Wie eine Therapiesitzung wirkt "Farewell Paradise" und brillant ist vor allem, wie Wyss die einzelnen Aussagen ineinander schneidet und sich dadurch das Bild weitet oder sich auch ein anderer Blick auf die Ereignisse öffnet. Perfekt greift da ein Rädchen ins andere, sodass sich die Aussagen zu einer schlüssigen Geschichte fügen, gleichzeitig aber auch Widersprüche bestehen bleiben.
Nichts lenkt hier vom Wesentlichen ab, aber gerade durch die Fokussierung auf diese eine Familie regt "Farewell Paradise" an auch über die eigene Familiengeschichten und ihre mehr oder weniger prägende Wirkung zu reflektieren. Denn am Ende führt Wyss ihre Geschichte von der tristen Vergangenheit in eine Gegenwart über, in der trotz aller bitteren Erfahrungen wieder der Eindruck eines glücklichen und geglückten Lebens beschworen wird.
Einen starken Eindruck hinterließ auch Christian Johannes Kochs Spielfilmdebüt "Spagat", das schon bei den Festivals von San Sebastian und Zürich lief. Mit einem starken Ensemble und einem dicht gebauten Drehbuch erzählt Koch in zupackender Inszenierung von der Affäre einer verheirateten Lehrerin mit einem illegal in der Schweiz lebenden Ukrainer. Erweitert wird diese Ausgangssituation durch die Töchter der beiden, die sich im Teenageralter befinden und ihre unterschiedlichen Wünsche klar formulieren.
Koch bleibt nah an den Figuren, bettet sie aber auch überzeugend in ein realistisch gezeichnetes Milieu ein. Hier wird nichts beschönigt, sondern klassisches sozialrealistisches Kino wird geboten, das aus der Handlung heraus ein – fast schon zu - breites Spektrum an Themen entwickelt. Da geht es einerseits um die bedrückende Situation eines Illegalen, der von seinem Arbeitgeber ausgebeutet wird, andererseits um die private Situation einer in einer scheinbar harmonischen Ehe lebenden Frau, die an einer Liebe, die wohl einfach über sie gekommen ist, zu zerbrechen droht.
Ein weiterer Aspekt ist der Gegensatz von saturiertem Schweizer Bürgertum und am Existenzminimum lebenden Migranten und der vor allem jugendliche Wunsch an diesem Reichtum teilzuhaben, während sich der Schweizer Teenager nach Freiheiten sehnt und gegen die Kontrolle durch die Mutter rebelliert.
Auch wenn nur ein sehr kleiner Bruchteil der 170 Filme, die in Solothurn gezeigt wurden, gesichtet werden konnte, stellt sich so das Bild eines starken und vielfältigen Schweizer Filmschaffens ein. Vor allem die Präsenz von jungen Stimmen wie Klemm, Pennetta und Koch, auf deren weitere Filme man gespannt sein darf, beeindruckte.
Weitere Berichte zu den 56. Solothurner Filmtagen:
Vorschau auf die 56. Solothurner Filmtage
Eröffnungsfilm "Atlas"
Nominierungen für den Schweizer Filmpreis 2021
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