Wilder Diamant - Diamant brut
- Walter Gasperi
- vor 7 Tagen
- 3 Min. Lesezeit

Agathe Riedinger zeichnet in ihrem Spielfilmdebüt das Porträt einer 19-jährigen Französin, die von einer Karriere als Reality-TV-Star und Influencerin träumt: Ein intensiver und roher, von der großartigen Hauptdarstellerin Malou Khebizi getragener Blick auf eine Welt, die einem älteren Publikum unbekannt sein dürfte.
Hautnah ist die Kamera von Noé Bach an der 19-jährigen Liane (Malou Khebizi) dran, rückt ihre übergroßen Silikonbrüste ebenso ins Bild wie die aufgespritzten Lippen, die bunt bemalten verlängerten Fingernägel, die dick aufgemalten schwarzen Augenbrauen und die glitzernden High Heels. Lange sieht die Kamera ihr beim Schminken zu, ehe sie wieder vor der Kamera post und dann ein Video auf ihren Instagram- oder Tiktok-Account stellt.
Dynamisch folgt ihr die unruhige Handkamera, wenn sie im Einkaufszentrum Parfüm, USB-Sticks und Pailletten von Kleidern klaut, ersteres auf der Straße zu verkaufen versucht und mit letzterem ihre Kleider aufpeppt. Mit nervösem Schnitt kehrt Agathe Riedinger in ihrem Langfilmdebüt die Energie und Getriebenheit ihrer Protagonistin nach außen. Keine Distanz kennt der im engen 4:3-Format gedrehte Film, sondern lässt unmittelbar teilhaben an Lianes Traum von einer Karriere als Star einer Reality-TV-Show und Influencerin.
In scharfem Kontrast dazu stehen aber Lianes Lebensbedingungen. Mit ihrer Mutter, die sie für zwei Jahre wegen ihrer Widerspenstigkeit ins Heim gegeben hat, und ihrer kleineren Schwester lebt sie in einer tristen Sozialwohnung an der Côte d´Azur. Mehr als die Mutter, die mit Männerbekanntschaften die Miete finanziert, dennoch knapp vor der Delogierung steht, übernimmt Liane Verantwortung für ihre Schwester, fungiert für diese aber auch schon als Role Model.
Wütend wird Liane, als die Beamtin im Jobcenter Zweifel an ihren Träumen hegt und sie zu einer bodenständigen Ausbildung motivieren will. Tatsächlich erhält sie aber bald einen Anruf von der Casting Direktorin einer angesagten Reality-TV-Show und wird zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen. Zermürbend ist dann freilich das lange Warten auf eine Antwort, ob sie eine Rolle in der Show bekommt oder nicht. Aber immerhin steigt allein durch die Einladung zum Vorsprechen die Zahl ihrer Follower.
Nah dran ist Riedinger an ihrer Protagonistin, die praktisch in jeder Szene präsent ist und von Malou Khebizi in ihrer ersten Kinorolle mit vollem Körpereinsatz und Leidenschaft gespielt wird, beutet sie aber nie aus. Denn so sehr Liane ihren Körper auch für ihre Video-Auftritte sexualisiert, so berührend wird die Unsicherheit und Verletzlichkeit vermittelt, die sie im Alltag ausstrahlt.
Selbstbewusst tritt sie zwar gegenüber Männern auf, weiß sich gegen Übergriffigkeit zu wehren und fordert Respekt, aber mit der Liebe Dinos, den sie aus dem Heim kennt, kann sie nicht umgehen und weist seine Annäherung zurück.
Erdgebundener, aber auch nicht viel realistischer wirkt der Traum dieses Motorradmechanikers und Motocrossers von einer großen Villa mit Pool und weitläufigem Garten, denn auch hier entführt Riedinger in ein tristes Milieu mit der staubigen Motorradstrecke und einem verlassenen Sportplatz. Aber auch ins Spannungsfeld von Kindheit und Erwachsenenwelt setzt die 40-jährige Regisseurin ihre Protagonist:innen, wenn diese in einer Szene unbeschwert herumtollen.
An die Filme der Britin Andrea Arnold, die Riedinger als ihr Vorbild nennt, erinnert "Wilder Diamant" sowohl im sozialrealistischen Blick auf ein tristes Milieu und auf einen auf sich selbst gestellten Teenager als auch in der zupackenden und unmittelbaren Erzählweise. Da glitzern nicht nur die Kleider von Liane, sondern auch die Bilder des Films sind immer wieder mit kräftigen Farbtupfern und in den Discoszenen mit Lichteffekten aufgeladen.
Nicht nur ein intensives Porträt eines Teenagers von heute ist "Wilder Diamant" so, sondern erzählt auch eindrücklich, wie durch Reality-TV und Soziale Medien die Sehnsucht zu gefallen und erfolgreich zu sein geschürt wird, Abhängigkeiten erzeugt und die Fokussierung auf äußere Schönheit propagiert werden.
Immer wieder blickt Liane nämlich auf die Reaktionen auf ihre Internet-Posts, die auch in den Film eingeblendet werden. Mögen sich dabei auch Begeisterung und negative Kommentare die Waage halten, diese Kämpferin hält dennoch an ihrem Traum fest und auch Riedinger lässt sie mit ihrem empathischen Blick nicht fallen.
Wilder Diamant – Diamant brut
Frankreich 2024
Regie: Agathe Riedinger
mit: Malou Khebizi, Idir Azougli, Andréa Bescond, Ashley Romano, Alexis Manenti, Kilia Fernane
Länge: 104 min.
Läuft in den Kinos, z.B. im Kinok St. Gallen.
Trailer zu "Wilder Diamant - Diamant brut"
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