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  • AutorenbildWalter Gasperi

Wicked Little Letters – Kleine schmutzige Briefe

Obszöne und beleidigende Briefe versetzen Anfang der 1920er Jahre den beschaulichen britischen Küstenort Littlehampton in Unruhe: Thea Sharrock erzählt in ihrer wendungsreichen Komödie mit markanten Typen und stimmigem Setting von ungebrochener Männerherrschaft und weiblicher Emanzipation.


Ein Insert bekräftigt, dass die Geschichte "wahrer sei, als man meinen könnte", doch wichtiger als diese Authentizität ist immer die innere Stimmigkeit eines Films. Die britische Theater- und Filmregisseurin Thea Sharrock fackelt so in ihrem dritten Spielfilm auch nicht lange, sondern versetzt mitten ins Geschehen, wenn die bigotte und gehemmte Edith Swan (Olive Colman) nun schon den neunzehnten schmutzigen Brief erhält, in dem sie mit zahlreichen obszönen Ausdrücken beleidigt wird.


Die Mutter (Gemma Jones) der etwa 50-jährigen unverheirateten Frau, die immer noch bei ihren Eltern lebt, schweigt dazu nur, während der autoritäre Vater (Timothy Spall) Edith auffordert, die Nachbarin Rose (Jesse Buckley) endlich bei der Polizei anzuzeigen. Unzweifelhaft muss diese nämlich die anonyme Briefschreiberin sein, pflegt sie doch auch im Alltag eine derbe Sprache, treibt sich im Pub herum, schert sich nicht um Sauberkeit und ist zudem auch noch keine Einheimische, sondern aus Irland immigriert.


Doch patriarchale Strukturen herrschen nicht nur im Hause Swan, sondern auch bei der Polizei. Officer Gladys Moss (Anjana Vasan) hat hier als Frau nicht viel zu melden und sich immer wieder frauenfeindliche Beleidigungen ihres Kollegen und Vorgesetzten gefallen lassen.


So werden auch ihre Einwände und Bedenken bezüglich der Verhaftung von Rose nicht beachtet. Rose ist nämlich als alleinerziehende Mutter mit lockerem Lebenswandel für die erzkonservative Männergesellschaft das willkommene Opfer. Zudem erhärtet sich der Verdacht, als nach der Entlassung Roses aus der Untersuchungshaft sogleich wieder eine Flut an schmutzigen Briefen verschickt wird. Doch Gladys beginnt gegen den Willen ihres Vorgesetzten auf eigene Faust mit einigen couragierten Frauen zu ermitteln.


Straff gehalten ist das Drehbuch von Jonny Sweet, dynamisch treibt der Brite die Handlung voran und überrascht mit mehreren Wendungen. Größter Trumpf des Films sind aber das lustvoll aufspielende Ensemble und die bis in Nebenrollen hinein treffende Besetzung, die scharfzüngigen Dialoge, bei denen die beiden Protagonistinnen kein Blatt vor den Mund nehmen und das Spiel mit markanten Gegensätzen.


Klamauk fehlt hier mit der karikaturistischen Überzeichnung der Figuren so wenig wie mit den Ermittlungen von Gladys und ihrem Team, die an einen Kinderkrimi à la "Emil und die Detektive" erinnern. Doch in diese lockere Oberfläche verpackt sind scharfe Spitzen gegen die patriarchalen Strukturen in Familie und bei der Polizei. Zentrum des Films bildet aber das Spannungsfeld zwischen der spießigen und ganz unter der Fuchtel ihres Vaters stehenden Edith und der lebensfrohen und unbekümmerten Rose, die trotz ihrer Verschiedenheit Freundinnen waren, bis Ediths Vater einschritt.


Herrlich steif und mit großer Zurückhaltung spielt Olivia Colman diese Edith, aber die mit Verve agierende Jesse Buckley stiehlt ihr weitgehend die Show. So derb sie auch spricht, raucht und trinkt, so wird sie doch auch als liebevolle Mutter gezeichnet, die stets ans Wohl ihrer Tochter Nancy (Alisha Weir) denkt. Kein Wunder ist es auch, dass nur ihr Freund Bill (Malachi Kirby) hinter ihr steht, kann er sich als Dunkelhäutiger und nicht geachtete Randfigur in der weißen Mehrheitsgesellschaft wohl bestens in Roses Außenseiterposition in dieser kleinbürgerlich-konservativen Welt hineinversetzten.


Großartig ist aber auch Timothy Spall als tyrannischer Vater, gegen den Edith nicht aufzubegehren wagt, während Gemma Jones als Gattin und Mutter mit ihrer Zurückhaltung eindrücklich vermittelt, wie sehr sie in den vielen Ehejahren die Rolle der stimm- und rechtlosen Frau verinnerlicht hat.


Herrliche Reibungen ergeben sich aber auch aus der Konfrontation der intelligenten Gladys mit ihren nicht ganz so intelligenten Vorgesetzten und die Stärke der Frauen wird gefeiert, wenn Gladys zusammen mit ihren Helferinnen versucht Rose zu entlasten, indem sie die wahre Täter:in ausfindig macht.


Sharrock, die im Vertrauen auf Drehbuch und Schauspieler:innen keine besonderen inszenatorischen Akzente setzen muss, offenbart zwar schon kurz nach der Mitte des Films, wer hinter den Briefen steckt, nichtsdestotrotz kann die Britin auch in der Folge mit überraschenden Wendungen aufwarten und das Tempo bis zum Ende hochhalten.


Neben der bis in die Nebenfiguren hinein einprägsamen Figurenzeichnung besticht "Wicked Little Letters" dabei auch durch die stimmige Verankerung im Ambiente der Küstenstadt der 1920er Jahre. Perfekt gewählt sind Kostüme (Charlotte Walter) und Kulissen (Cristina Casali) und beiläufig spricht Sharrock auch den Kampf der Suffragetten fürs Frauenwahlrecht und die während des Ersten Weltkriegs gewonnene Freiheit der Frauen an, die die Männer nun in der Nachkriegszeit wieder rückgängig machen wollen.


Gleichzeitig sind die gehässigen Briefe aber auch als Parallele zu heutigen Shitstorms via Soziale Medien angelegt, sodass es dieser spritzigen schwarzen Komödie auch an Gegenwartsbezug nicht mangelt.

  


Wicked Little Letters – Kleine schmutzige Briefe

Großbritannien / Frankreich 2023

Regie: Thea Sharrock

mit: Olivia Colman, Jessie Buckley, Anjana Vasan, Malachi Kirby, Timothy Spall, Gemma Jones, Alisha Weir, Joanna Scanlan, Lolly Adefope, Eileen Atkins, Hugh Skinner

Länge: 100 min.



Läuft derzeit in den Kinos, z.B. im Kinok St. Gallen und im Skino Schaan.


Trailer zu "Wicked Little Letters - Kleine schmutzige Briefe"





 

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