Mit spürbarer Liebe zu Robert Wises Meisterwerk von 1961 hat Steven Spielberg Leonard Bernsteins Musical neu verfilmt und teilweise leicht modernisiert. Weltberühmte Hits, meisterhaft choreographierte Tanzszenen und sehr körperliche Kampfszenen sorgen für zweieinhalb dichte und kraftvolle Kinostunden.
Im Alter von 75 Jahren wagt Steven Spielberg, der von "Der weiße Hai" über "E.T." und "Indiana Jones" bis zu "Schindlers Liste" für zahlreiche Welterfolge verantwortlich zeichnet und der kommerziell erfolgreichste Regisseur aller Zeiten ist, nochmals etwas Neues: Erstmals hat er sich mit "West Side Story" an ein Remake gewagt und erstmals ein Musical gedreht.
Nicht ein Nebenwerk, sondern einen der großen Klassiker des Genres hat er sich mit Leonard Bernsteins (Musik) und Stephen Sondheims (Gesangstexte) 1957 uraufgeführtem Musical vorgenommen. Nicht nur auf der Bühne entwickelte sich die von Shakespeares Tragödie "Romeo und Julia" inspirierte Liebesgeschichte vor dem Hintergrund der Rivalität zwischen der von weißen Amerikanern gebildeten Jugendbande Jets und den immigrierten puerto-ricanischen Sharks um die Vormacht in einem New Yorker Viertel zum Welterfolg. Auch die vier Jahre später entstandene Verfilmung von Robert Wise schlug weltweit ein, wurde mit 10 Oscars ausgezeichnet und brachte eine härtere und realistische Note in ein Genre, das bis dahin für Realitätsflucht bekannt war.
Dass Spielberg, der sich nach eigener Aussage schon als Zehn- oder Elfjähriger in die Musik von "West Side Story" verliebte, auch eigene Akzente setzen will, macht er schon mit der Eröffnungsszene klar. Im Gegensatz zum Original fährt hier die Kamera von Janusz Kaminski lange über Bauschutt, ehe mit einem Schwenk nach oben ein Plakat zur Errichtung des Lincoln Center ins Bild kommt. Auch später wird mehrfach das Verschwinden dieses Wohnviertels und die anstehende Zwangsumsiedlung der Bewohner*innen thematisiert.
So erzählen Spielberg und sein Drehbuchautor Tony Kushner von einer Gentrifizierung zu einer Zeit, als es dieses Wort noch gar nicht gab. Gleichzeitig werden damit aber auch die Revierkämpfe zwischen den Jets und Sharks völlig absurd, denn für keine der beiden Gruppen wird schließlich mehr Platz sein in diesem Viertel, das am Ende mit den abgerissenen Häusern und dem Bauschutt an deutsche Trümmerstädte nach dem Zweiten Weltkrieg erinnert. Statt sich aber gegen den äußeren Feind zu verbünden, zerfleischen sie sich gegenseitig.
Auch die ethnischen Gegensätze und der Rassenkonflikt werden nicht zuletzt dadurch stärker herausgearbeitet, dass die Puerto-Ricaner immer wieder Spanisch reden und diese Passagen nicht untertitelt werden. Vor allem diese Thematik dürfte Spielberg auch an "West Side Story" interessiert haben, denn schon in "Die Farbe Rosa" (1985), "Amistad – Das Sklavenschiff" (1997) oder "Lincoln" (2012) hat er sich mit der Unterdrückung der Afroamerikaner auseinandergesetzt.
Auf der erzählerischen Ebene ist der Spielraum freilich gering und Spielberg will auch gar nicht eigene Wege gehen, lässt vielmehr seine Bewunderung für Robert Wises Welterfolg stets spüren und legt sein Remake auch als Hommage an diesen Klassiker an. Das zeigt sich auch darin, dass er die Rolle einer Ladenbesitzerin mit der 90-jährigen Rita Moreno besetzte, die im Original Anita spielte und dafür als erste hispanische Schauspielerin mit einem Oscar ausgezeichnet wurde. Moreno sorgt mit ihrer Reprise des Songs "Somewhere" auch für einen der berührendsten Momente des Films.
Mit den technischen Fortschritten der letzten 60 Jahre kann Spielberg seine Verfilmung aber auch großzügiger und dynamischer anlegen als Robert Wise. Mitreißenden Schwung erzeugt er, indem er in den Tanz- und Kampfszenen immer wieder mit Nahaufnahmen mitten ins Geschehen versetzt, dann wieder mit Totalen einen Überblick vermittelt. Großen Drive entwickelt dieses Musical aber auch mit spektakulären langen Kamerafahrten und präzis geplanten langen Einstellungen sowie dem perfekten Schnitt. Da gibt es keine Bruchstelle, sondern wie aus einem Guss wirkt nicht nur jede Szene, sondern auch der ganze Film, doch die Perfektion wird nie ausgestellt und selbstzweckhaft, sondern steht ganz im Dienst der Erzählung.
Überlegt gewählt ist auch die Farbdramaturgie, bei der schmutzige Blau- und Grautöne meist die Welt der jungen Männer bestimmt, während die Frauen mit kräftig roten und gelben Kleidern Farbe in den Film bringen. Denn nicht nur von der Rivalität zwischen Jets und Sharks erzählt "West Side Story", sondern eben auch von gegensätzlichen Geschlechterrollen mit einer toxischen Männlichkeit auf der einen Seite und der Zurückdrängung auf Haushalt und Putzfrauenjobs der Frauen auf der anderen.
Durchbrochen wird diese strenge Rollenzuschreibung nur durch eine junge Transgender-Frau (Iris Menas), die Spielberg neu hinzugefügt hat und die im arabischen Raum zu Verboten des Films geführt hat. Unbedingt will dieser Tomboy zu den Jets dazugehören, wird von diesen aber lange nicht ernst genommen. Und auf einer weiteren Ebene geht es auch um den Konflikt zwischen den Jugendlichen und den älteren Polizisten.
Herzstück des Films ist aber der Gegensatz zwischen Gruppenzugehörigkeit, aus der der weiße Tony (Ansel Elgort) und die Puerto-Ricanerin Maria (Rachel Zegler) mit ihrer Liebe ausbrechen, und individuellem Glück. So wechselt der Film auch immer wieder in perfektem Timing zwischen Gruppenszenen und Zweierszenen zwischen Maria und Tony, zwischen intimen Songs wie "Maria" oder "Tonight" und spektakulären Gruppen-Choreographien wie bei "America", bei der der Tanz durch das ganze Viertel führt und dieses vorgestellt wird.
Verstärkt hat Spielberg auch den Realismus und die Härte der Kampfszenen. Spüren lässt er die Aggression und das explosive Klima, die sich immer auch in der harten Musik ausdrücken, schon bei der Tanzveranstaltung, bei der sich Tony und Maria erstmals begegnen. Immer wieder müssen in dieser Turnhalle die gegensätzlichen Gruppen von Ordnungskräften auseinandergetrieben werden und der Mittelstrich des Basketballfelds fungiert als Trennlinie, die nicht überschritten werden darf. Aber besonders die sehr körperliche Inszenierung der Kampfszenen, bei denen der Zuschauer immer wieder mitten ins Geschehen versetzt wird, lässt intensiv die Gewalttätigkeit und den Hass dieser Jugendlichen spüren. Auf verlorenem Posten steht hier Tony, der zu vermitteln versucht.
Zur mitreißenden Kraft tragen aber auch die jungen und noch unbekannten Schauspieler*innen bei. Vor allem Ariana DeBoses leidenschaftliche und kraftvolle Verkörperung Anitas bleibt in Erinnerung, während Ansel Elgort und Rachel Zegler einfühlsam die intensive Liebe des Paares vermitteln, Zegler ihre Maria aber auch viel selbstbewusster anlegt als Natalie Wood im Original.
Vorwerfen kann man diesem Remake einzig, dass es abgesehen von den kleinen Modernisierungen ganz in den späten 1950er Jahren verhaftet bleibt und keinen Bogen zur Gegenwart schlägt. Notwendigkeit und Dringlichkeit gewinnt diese "West Side Story" somit kaum, sondern bietet in erster Linie perfektes und energiegeladenes, aber auch ziemlich überraschungsfreies klassisches Hollywoodkino. – Etwas anderes war von Spielberg freilich kaum zu erwarten, denn ein großer Neuerer filmischer Erzählweisen war er nie.
Läuft derzeit in den Schweizer und Deutschen Kinos und ab 17.12. in den österreichischen Kinos.
Trailer zu "West Side Story"
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