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  • AutorenbildWalter Gasperi

Un autre monde


Konzentriert und schnörkelloses Porträt eines Managers, der auf Druck der Firmenleitung Arbeiter entlassen soll: Meisterhaftes sozialrealistisches Kino, dessen Blick auf die Mechanismen des Kapitalismus wütend macht.


Nach "La loi du marché – Der Wert des Menschen" (2015) und "En guerre – Streik" (2018) schließt Stéphane Brizé mit "Un autre monde" seine Trilogie über die moderne kapitalistische Arbeitswelt ab. Stand bei "La loi du marche" ein etwa 50-jähriger Langzeitarbeitsloser auf Jobsuche im Zentrum und bei "En guerre" ein Gewerkschaftler, der gegen die Schließung einer Fabrik kämpft, so scheint Brizé in "Un autre monde" die Seiten zu wechseln.


Im Zentrum steht nämlich nun ein Manager. Wie die beiden vorigen Protagonisten wird er von Vincent Lindon gespielt und wie in den vorigen Filmen ist Lindon in jeder Szene präsent. Sein Philippe Lemesle scheint auf den ersten Blick zu den Mächtigen im Wirtschaftsleben zu gehören. Brizé deckt aber ebenso nüchtern wie bestechend auf, wie auch dieser Leiter einer regionalen Fabrik in ein Räderwerk eingebunden ist, wie er ständig unter Druck steht und wie seine Familie daran zerbricht.


Denn nicht mit einer Arbeitsszene setzt "Un autre monde" ein, sondern auf eine Kamerafahrt über Fotos einer glücklichen Familie folgt eine Scheidungsszene vor den Anwälten der beiden Parteien. Die Aufzählung des Besitzes den Philippe durch seinen Job erworben hat, ist beträchtlich, doch Preis dafür war, dass er keine Zeit mehr für die Familie hatte und dass er immer die Arbeit und seine Sorgen mit nach Hause gebracht hat. – Nun hat seine Frau Anne (Sandrine Kiberlain) deswegen die Scheidung eingereicht.


Unter welchem Druck Philippe steht, macht die nächste Szene deutlich. Mit seinen Mitarbeiter*innen diskutiert er darüber, dass die Unternehmensleitung fordert, dass 10% der Arbeiter*innen entlassen werden. Das Unternehmen läuft zwar im Grunde gut, dennoch sollen die Ausschüttungen für die Aktionäre erhöht werden.


Dass die Arbeiter*innen aufgrund früherer Reduktion der Belegschaft jetzt schon völlig überlastet ist, kümmert die Unternehmensleitung in Paris und den USA so wenig wie die Zerstörung von Existenzen durch Entlassung. Längst haben diese eiskalten Macher jeden Bezug zur Arbeiterschicht und damit auch jedes Mitgefühl verloren.


Dem Versuch in der Fabrik eine Lösung zu finden, stehen die Treffen mit der nationalen Chefin gegenüber, die mit Hinweis auf den großen Chef in den USA die Erfüllung der Vorgaben fordert. Keine Blöße will sie sich gegenüber der Konzernleitung geben, sondern beweisen, dass in ihrem Bereich Forderungen knallhart umgesetzt werden. Gleichzeitig möchte die von der TV-Moderatorin Marie Drucker mit eisiger Kälte gespielte Karrieristin sich damit freilich auch für eine Beförderung empfehlen. Der amerikanische Konzernchef wiederum beruft sich in einer Zoom-Konferenz auf den Druck der Aktionäre und der Wall-Street.


Nüchtern, aber präzise deckt Brizé ein kapitalistisches Denken auf, in dem Gier die einzige Triebfeder der Handlung ist und Menschlichkeit auf der Strecke bleibt. Da mag Philippe als Alternativvorschlag für die Entlassungen den Verzicht der Manager auf Boni und Prämien vorbringen und dafür auch eine Mehrheit finden, so wird er dafür vom amerikanischen Chef nur verlacht: Es gehe nicht ums Geld, sondern um konsequente Durchsetzung von Anordnungen und eine "Verschlankung des Betriebs".


Zerrissen wird so dieser Manager fast zwischen Firmenleitung und Arbeiter*innen, denn er möchte sowohl loyal gegenüber der Chefin sein als auch für das Wohl seiner Arbeiter*innen sorgen. Doch unmöglich kann er es beiden recht machen und muss schließlich auch eine moralische Entscheidung treffen.


Gleichzeitig zeigt Brizé aber die Auswirkungen auf die Familie. Denn nicht nur die Ehe zerbricht, sondern zudem erkrankt Sohn Lucas vielleicht aufgrund dieser Belastungen psychisch und wird in eine Klinik eingeliefert. Dennoch endet "Un autre monde" mit einem hoffnungsvollen Bild.


Dicht reiht der französische Regisseur Szene an Szene, keine Leerstelle und keine Ablenkung gibt es hier. Durchschlagskraft und Intensität entwickelt dieses Drama durch die Komprimiertheit und Schnörkellosigkeit. Keine Szene, kein Dialog ist hier zu viel, jedes Bild hat seine Funktion.


Die Dominanz von Grau- und Blautönen sowie weißes Licht erzeugen eine kalte Stimmung. Gering gehalten ist die Schärfentiefe, der Fokus liegt ganz auf dem menschlichen Gesicht, kaum einmal weiten Totalen den Blick. Trotz Breitwandformat entwickelt "Un autre monde" in dieser Nähe zu den Charakteren beklemmende Enge.


Sichtbar und spürbar wird durch diese Nähe im Gesicht von Vincent Lindon die Anspannung und Belastung dieses Managers. Einzig ein Videonanruf seiner Tochter zum Geburtstag sowie ein Spieleabend mit Frau und Sohn sorgen für Momente der Entspannung.


Weniger Auftritte hat neben Lindon Sandrine Kiberlain, die einst mit Lindon verheiratet war und unter der Regie von Brizé schon in "Mademoiselle Chambon" mit ihrem Ex-Mann ein Paar spielte. Eindrücklich vermittelt sie dennoch, wie auch sie die Trennung belastet. Perfekt ist auch die Besetzung der Nebenrollen mit Laien. Verstärkt wird damit die Authentizität dieser von starken Dialogen bestimmten Szenen der Konferenzen und Diskussionen, die sichtlich auf genauen Recherchen in der Realität fußen.


Un autre monde Frankreich 2021 Regie: Stéphane Brizé mit: Vincent Lindon, Sandrine Kiberlaine, Anthony Bajon, Marie Drucker, Guillaume Draux, Olivier Lemaire, Christophe Rossignon Länge: 96 min.


Läuft derzeit in den Schweizer Kinos, z.B. im Kinok St. Gallen



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