Zwei junge afrikanische Flüchtlinge versuchen sich in Belgien durchzuschlagen. – Mit ihrem zwölften Spielfilm, der in Cannes mit dem Spezialpreis der Jury ausgezeichnet wurde, gelang Jean-Pierre und Luc Dardenne ein weiteres Meisterwerk des sozialrealistischen Kinos: ungemein konzentriert und kompakt in der Erzählweise, genau im Blick auf soziale Realitäten, herzzerreißend durch das bewegende Spiel der LaiendarstellerInnen Pablo Schils und Joely Mbunda.
Seit ihren Anfängen in den 1990er Jahren fokussieren die belgischen Brüder Jean-Pierre und Luc Dardenne auf Menschen am Rand der Gesellschaft. Von der jungen "Rosetta" (1999), die in einem Wohnwagen lebt, über den sozial vernachlässigten Jungen in "Le gamin au velo" (2011) bis zur um ihren Arbeitsplatz kämpfenden Frau in "Deux jours, une nuit" (2014) spannt sich der Bogen.
Mit unruhiger Handkamera, unmittelbarer Erzählweise und atemlosem Tempo entwickelte das Brüderpaar dabei quasi Kriegsfilme über einen prekären Alltag. Nicht anders als die Soldaten in den direkten und harten Kriegsfilmen eines Sam Fuller oder in Anthony Manns "Men in War" ("Tag ohne Ende", 1957) auf den Schlachtfeldern des Koreakriegs oder des Zweiten Weltkriegs kämpfen die Protagonist:innen in den Filmen der Dardennes auf dem Schlachtfeld einer unbarmherzigen Gesellschaft ums Überleben.
Hilfe von außen dürfen sie kaum erwarten, ganz auf sich sind sie meist gestellt, einzig der "Gamin auf velo" fand in einer märchenhaft bemühten Lehrerin eine Stütze. Davon abgesehen findet sich in dieser Gesellschaft Solidarität kaum, denn jeder interessiert sich nur für sich oder kämpft ums eigene Überleben.
Immer wieder richteten die Brüder den Blick auf sozial randständige Belgier, aber schon im Spielfilmdebüt "La promesse" (1996) ging es auch um illegale Immigranten. Deren Situation thematisierten die Brüder auch in "Le silence de Lorna" (2008), in dessen Mittelpunkt eine junge Albanerin stand, ehe sie mit "La fille inconnue" (2016) die aktuelle Flüchtlingsthematik aufgriffen. Während diesen Film aber die Recherche einer belgischen Ärztin zur Identität einer verstorbenen Afrikanerin bestimmte, erzählen sie in "Tori et Lokita" ganz aus der Perspektive und auf Augenhöhe mit zwei jungen afrikanischen Flüchtlingen.
Mit dem völligen Verzicht auf Filmmusik und dem Verzicht auf Stars wie Cécile de France in "Le gamin au velo", Marion Cotillard in "Deux jours, une nuit" oder Adèle Haenel in "Une fille inconnue" kehren sie ebenso wie mit den beiden jugendlichen ProtagonistInnen quasi zu ihren Wurzeln zurück.
Wie alle Filme des Brüderpaars spielt auch "Tori et Lokita" im Lütticher Industriegebiet Seraing, in dem die Dardennes auch selbst aufgewachsen sind. Doch durch die Nähe der Kamera wird der Raum förmlich anonymisiert, sodass der Film auch in jeder beliebigen anderen west- oder mitteleuropäischen Region spielen könnte.
Minutenlang ist die erste Einstellung, in der die etwa 16-jährige Lokita (Joely Mbunda) in der Aufnahmebehörde zu ihrer Beziehung zum etwa zehnjährigen Tori (Pablo Schils), den sie als ihren Bruder ausgibt, befragt wird. Ganz auf ihrem Gesicht fokussiert die Kamera. Aus dem Off werden die Fragen gestellt und auch der neutrale weiße Hintergrund sorgt dafür, dass nichts vom Wesentlichen ablenkt.
Ergebnislos wird diese Anhörung abgebrochen. Ein DNA-Test soll klären, ob Lokita und Tori wirklich Geschwister sind. Die Zuschauer:innen erfahren freilich bald, dass sich die beiden Jugendlichen erst bei der Überfahrt übers Mittelmeer kennengelernt, aber dann stets zusammengehalten haben. Als Schwester von Tori würde Lokita in Belgien auch eine Aufenthaltsgenehmigung erhalten, die Tori schon bekommen hat, da er als sogenanntes Hexenkind in seiner afrikanischen Heimat den Tod fürchten muss.
Unter Druck steht Lokita aber nicht nur durch die drohende Abschiebung, sondern auch weil sie einerseits an ihre Mutter in Afrika Geld schicken muss, damit ihre kleinen Geschwister die Schule besuchen können, andererseits der Schlepper, der sie von Italien nach Belgien gebracht hat, immer wieder Geld fordert.
Für einen Pizzakoch verkauft sie deshalb mit Tori Drogen in Nachtclubs, muss aber auch sexuelle Ausbeutung hinnehmen. Einzig dieser Koch ist es freilich, der sie nach Festsetzung der Abschiebung verstecken und ihr gefälschte Papiere beschaffen kann.
So präzise in der ersten Hälfte in knappen Szenen die vielfältigen Problemfelder von Flüchtlingen vermittelt werden, so souverän wandelt sich das Sozialdrama mit dem Untertauchen Lokitas zum packenden, aber immer in der Realität geerdeten Thriller.
Durchschlagskraft entwickelt "Tori et Lokita" dabei durch die ungemein kompakte und konzentrierte Erzählweise. Viele Szenen bestehen nur aus einer einzigen Einstellung. Kein überflüssiges Bild gibt es, kaum einen Moment der Ruhe und Entspannung. Nicht nur große Dichte entwickelt der Film durch diese extreme Verdichtung, sondern durch die harten Schnitte und die unerbittliche Erzählweise wird auch die Unerbittlichkeit dieser kalten Welt spürbar.
Gleichzeitig verhindert diese gedrängte Erzählweise auch das Aufkommen von Sentimentalität und Sozialkitsch: Lakonisch und trocken ist das inszeniert – und gleichzeitig voll tiefer Empathie für die beiden jungen MigrantInnen, die auf allen Ebenen ausgenützt werden.
Nie öffnet sich der Blick auf den Himmel, immer nah dran an den beiden ProtagonistInnen ist die Kamera von Benoît Dervaux. Der verwackelte Handkamerastil der frühen Filme, der die Anspannung und innere Unruhe der Protagonist:innen direkt auf die Zuschauer:innen übertrug, ist zwar zumal in der ersten Hälfte deutlich zurückgenommen, dafür vermittelt die atemlose Erzählweise intensiv die beklemmende Situation. So unvermittelt dieses bewegende Drama einsetzt, so unvermittelt endet es nach 88 Minuten auch wiederum mit einer langen Einstellung, die die ganze Szene umfasst, in deren Mittelpunkt nun aber Tori steht.
Nicht unwesentlich zur Authentizität trägt auch bei, dass die beiden Jugendlichen mit Pablo Schils und Joely Mbundu von zwei famosen LaiendarstellerInnen gespielt werden. Bewegend vermitteln sie diese tiefe Freundschaft, den Einsatz und die Fürsorge füreinander. Einen wunderbaren Kontrast ergeben dabei auch die eher besonnene Lokita und der ebenso freche wie schlaue Tori. Ihre Beziehung ist ein Leuchtturm der Menschlichkeit und der Wärme in einer Welt, in der immer wiederkehrende Einstellungen von Geldscheinen, die auch ständig nachgezählt werden, auf eine materialistische Gesellschaft verweisen, der jede Empathie und Mitmenschlichkeit abhanden gekommen sind.
Tori et Lokita Frankreich / Belgien 2022 Regie: Jean-Pierre Dardenne, Luc Dardenne mit: Pablo Schils, Joely Mbundu, Alban Ukaj, Tijmen Govaerts, Charlotte De Bruyne, Nadège Ouedraogo, Marc Zinga Länge: 88 min.
Läuft derzeit in den Schweizer Kinos, z.B. im Kinok St. Gallen und im Skino Schaan.
Trailer zu "Tori et Lokita"
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