The Secret Agent
- Walter Gasperi

- vor 12 Minuten
- 5 Min. Lesezeit

Kleber Mendonça Filho zeichnet in seinem in Cannes mehrfach preisgekrönten, packenden Politthriller ein atmosphärisch dichtes Bild des von Polizeiwillkür, Korruption, Angst und Verunsicherung geprägten Brasilien der Militärdiktatur der 1970er Jahre: Virtuos aufgebautes, inhaltlich vielschichtiges und visuell aufregendes Kino, das souverän die Spannung über 158 Minuten aufrecht hält.
Schon die schwarzweißen Archivaufnahmen am Beginn versetzen in die Vergangenheit. Der Hinweis auf den Karneval könnte fröhliche Stimmung erzeugen, doch im Kontrast dazu steht die Nachricht, dass die Feierlichkeiten schon 91 Tote gefordert haben und ein Insert, das 1977 als ein Jahr des Leids bezeichnet.
13 Jahre leidet Brasilien schon unter der Militärdiktatur und noch acht weitere Jahre werden folgen (1964 – 1985). Walter Salles´ erzählte von den Schrecken dieser Zeit zuletzt in seinem unter anderem mit einem Oscar ausgezeichneten Familiendrama "Für immer hier" ("I´m Still Here", 2024), doch im Vergleich zu diesem recht konventionellen Film bietet Kleber Mendonça Filho in seinem in Cannes mit dem Preis für die beste Regie, dem Darstellerpreis für Wagner Moura und dem Preis der internationalen Filmkritik (FIPRESCI) ausgezeichneten vierten Spielfilm ungleich moderneres, aufregenderes und komplexeres Kino.
An ein Western-Setting erinnert die Auftaktszene, wenn ein Mann (Wagner Moura) in seinem knallgelben VW-Käfer in der Pampa eine einsame Tankstelle ansteuert. Als der Fahrer eine neben der Tankstelle liegende, nur notdürftig mit Pappkartons zugedeckte Leiche sieht, will er schon weiterfahren, doch der Tankwart hält ihn ab. Noch während er auftankt, kommt eine Polizeistreife vorbei. Diese interessiert sich aber nicht für die Leiche, sondern kontrolliert vielmehr den Fahrer des Käfers.
Eine Beklemmung und eine Angst, wie man sie aus US-Filmen wie "Queen & Slim" bei der Kontrolle von Afroamerikaner:innen kennt, baut Mendonça Filho auf, wenn er die Beamten sich nicht mit den Papieren zufriedengeben, sondern auch den Feuerlöscher und den Kofferraum des Fahrers prüfen. Auch Bestechung kommt dazu, wenn sie um eine Spende für die Karnevalskasse der Polizei bitten.
Mit dieser ersten Szene baut der 57-jährige Brasilianer nicht nur eine Stimmung auf, die die folgenden zweieinhalb Stunden bestimmen wird, sondern bringt auch schon Polizeiwillkür und Korruption als zentrale Themen ins Spiel. Aber auch visuell drückt dieser Auftakt "The Secret Agent" schon den Stempel auf. Wie der knallgelbe VW-Käfer bestimmen kräftige Farben von einer orangen Telefonzelle bis zu einem roten Telefon den in Cinemascope-Format gedrehten Film und nicht nur die detailreiche Ausstattung evoziert mit Autos, Frisuren und Kleidung dicht die 1970er Jahre Atmosphäre, sondern auch die leicht körnigen, rauen Bilder.
Schließlich lassen die Polizisten den Mann, der sich Marcelo nennt, ziehen und er kommt in das am Atlantik gelegene Recife, wo er seinen Sohn bei seinen Schwiegereltern abholen will, um mit ihm das Land zu verlassen. Dem Ort der Solidarität, den er im Haus von Dona Sebastiana (Tânia Maria), die Verfolgten Unterkunft bietet, steht die Willkür gegenüber, die er bald in Person des Polizeichefs Polizeichef Euclides (Robério Diógenes) und dessen Helfern kennenlernt.
Mendonça Filho erzählt aber nicht linear die Geschichte Marcelos, sondern legt geschickt in verschachtelter Erzählweise, die Konzentration verlangt, mehrere Handlungsfäden aus, die er erst am Ende zusammenführt. Nicht nur einen packenden Einblick in unterschiedliche Milieus bietet er so, sondern verdichtet auch das Klima der Angst und Verunsicherung, wenn neben der Polizei bald auch noch zwei Auftragskiller im Dienst eines Industriellen unterwegs sind oder in einem getöteten Tigerhai ein menschliches Bein gefunden wird.
Im Industriellen, der aus privaten wirtschaftlichen Interessen Gegner jagt, wird die Verschränkung von politischer und wirtschaftlicher Macht spürbar, während eine kurze Szene mit einer reichen Dame und ihrer Hausangestellten markant nicht nur die gesellschaftliche Kluft, sondern auch die Parteinahme der Polizei für die Oberschicht aufdeckt und anprangert. Wenn die Kamera dabei immer wieder auf das Porträt von Präsident Ernesto Geisel schwenkt, dann signalisiert dies, dass dieses Vorgehen von Industriellen und Polizei von höchster Ebene geduldet oder sogar gefördert wird.
Spannung wird aber nicht nur mit den unterschiedlichen Handlungssträngen aufgebaut, sondern auch dadurch, dass erst spät mit Rückblenden Einblick in die Biographie Marcelos geboten wird. Aber auch Details wie die Rolle des Hais, die sich mit der Begeisterung von Marcelos Sohn für Spielbergs "Der weiße Hai" und dem getöteten Tigerhai durch den Film zieht und die man auch als Metapher für das Verhältnis von Mächtigen und Unterschicht lesen kann, sowie das im Hai gefundene menschliche Bein tragen zum Reichtum dieses brillanten Politthrillers bei.
Denn über dieses menschliche Bein wird auch eine surreale Szene eingebaut, die eine im Recife der 1970er Jahre populäre Urban Legend aufgreift, die an die Repression der Militärdiktatur gegen Homosexuelle erinnert. Andererseits deutet ein Kurzauftritt des legendären Udo Kier, der schon zahlreiche Nebenrollen in den Filmen so unterschiedlicher Regisseure wie Rainer Werner Fassbinder, Andy Warhol, Lars von Trier, Gus Van Sant und Alexander Payne spielte, wiederum die Begeisterung der Polizei für Nazi-Soldaten des Zweiten Weltkriegs und Missachtung jüdischer Opfer an.
Getränkt ist der Film des in Recife aufgewachsenen Regisseurs und früheren Filmkritikers aber auch von seiner Kinoleidenschaft und seinen eigenen Kinoerfahrungen als Junge. Über den Job von Marcelos Schwiegervater als Filmvorführer in einem der städtischen Kinos erweist Mendonça Filho nämlich dem Kino der 1970er Jahre mit kurzen Ausschnitten aus dem Horrorfilm "The Omen" (1976) und der Jean-Paul-Belmondo-Actionkomödie "Le Magnifique – Ich bin der Größte" (1973) sowie mit Filmplakaten wie dem zu Lina Wertmüllers "Pasqualino Settebellezze" ("Sieben Schönheiten", 1975) ebenso seine Reverenz wie mit dem gelben Käfer, der Erinnerungen an die Disney-Filmreihe um den VW-Käfer Herbie (1968 – 1980) weckt.
Trotz der Länge von 158 Minuten lässt so dank der brillanten visuellen Gestaltung, der Verzahnung der Handlungsstränge und der Fülle an perfekt besetzten Figuren die Spannung nie nach, sondern steigert sich gegen Ende noch in einer dramatischen Verfolgungsjagd, bei der die Gewalt eskaliert. Über das Historische hinaus, bei dem Fiktion und Realität souverän gemischt werden, spannt Mendonça Filho aber auch den Bogen zur Gegenwart.
Schwach konturiert mag zunächst die Recherche von zwei Studentinnen sein, die alte Tonaufnahmen aus den 1970er Jahren abhören, doch im Finale gewinnt auch diese Ebene Gewicht. Nicht nur an das Verblassen und das Bruchstückhafte von Erinnerungen wird dann erinnert, sondern mehr noch wird – auch mit der Metapher einer Bluttransfusion - an die Notwendigkeit der Aufarbeitung und das Bewahren der Vergangenheit betont und dem Verdrängen eine Absage erteilt.
Nochmals wird dabei nicht nur der Bogen zu "Der weiße Hai" geschlagen, sondern Mendonça Filho knüpft dabei auch an seinen Dokumentarfilm "Retratos Fantasmas" ("Pictures of Ghosts", 2023) an, in dem er sich mit der Geschichte der Kinos von Recife und ihrem Verschwinden beschäftigte.
The Secret Agent
Brasilien / Frankreich / Niederlande / Deutschland 2025
Regie: Kleber Mendonça Filho
mit: Wagner Moura, Maria Fernanda Cândido, Gabriel Leone, Carlos Francisco, Alice Carvalho
Länge: 158 min.
Läuft derzeit in den deutschen und Schweizer Kinos, z.B. im Kinok St. Gallen und im Skino Schaan. - Ab 19.12. in den österreichischen Kinos.
Trailer zu "The Secret Agent"




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