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  • AutorenbildWalter Gasperi

The Blind Man Who Did Not Want to See Titanic


Ein blinder und von der Brust abwärts gelähmter Mann bricht von seiner Wohnung auf, um eine Internetbekanntschaft zu besuchen. Doch auf der Zugfahrt ist er leichte Beute für zwei Kriminelle. – Mit großer formaler Konsequenz erzählt Teemu Nikki in seiner pechschwarzen Komödie, die sich um political correctness nicht kümmert, ganz aus der Perspektive seines Protagonisten und vermittelt dabei dessen ungebrochenen Lebenswillen ebenso wie dessen Filmleidenschaft.


Den ersten Akzent setzt schon der in Blindenschrift geschriebene Vorspann, der aus dem Off vorgelesen wird. Mit einer Detailaufnahme eines Auges von Jakko (Petri Poikolainen) setzen dann die Bilder ein. Hautnah bleibt die Kamera von Sari Aaltonen die folgenden 80 Minuten an dem jungen Mann, der aufgrund von Multiple Sklerose nicht nur sein Augenlicht verloren hat, sondern auch auf einen Rollstuhl angewiesen ist.


Nachts träumt der allein lebende Mann zwar vom Joggen, doch am Morgen klettert er mühsam aus seinem Bett in den Rollstuhl. Sein Vater ruft immer wieder an, um sich nach seinem Befinden zu erkundigen, mit der schwer an Krebs erkrankten Internetbekanntschaft Sirpa unterhält er sich in Telefonaten über den unterschiedlichen Filmgeschmack. Denn während Jakko für die Filme von John Carpenter und die frühen Action-Filme von James Cameron schwärmt, steht sie auf "Titanic", dessen DVD bei ihm noch verpackt im Regal steht.


Manchmal schaut auch eine Reinigungsfrau und Betreuerin vorbei, doch bestenfalls ansatzweise und unscharf bekommt man diese zu Gesicht. Denn der Fokus der Kamera liegt immer auf dem Gesicht von Jakko, jeder Hintergrund bleibt ausgespart.


Radikal ist der Film, bei dem bis kurz vor dem Ende auf jede Filmmusik verzichtet wird, in dieser Einengung des Blicks, macht die Ohnmacht Jakkos erfahrbar, beschwört aber auch immer wieder seine Filmleidenschaft. Schwarzer Humor macht sich dabei immer wieder breit, wenn ihm die Angebetete einen Videocall vorschlägt, obwohl sie doch wissen muss, dass er sie nicht sehen kann.


Als sich Sirpa aufgrund einer bedrückenden Diagnose schlecht fühlt, beschließt er, zu ihr zu fahren. Machbar muss das sein, braucht er doch nur von der Wohnung zum Taxi und dann vom Taxi zum Zug und am Zielbahnhof wiederum zum Taxi Unterstützung. Doch schon am Bahnhof versucht man ihm den Rucksack zu entreißen und im Zug sitzt Jakko ein junger Mann gegenüber, der ein Scorpions T-Shirt trägt, von denen Jakko wieder gar nichts hält. – Man sieht den Überfall schon kommen, doch gewiss ist auch, dass es auch hilfsbereite Leute gibt.


Nachdem Teemu Nikki schon mit "Euthanizer" eine pechschwarze Thrillergroteske gelang, legt er mit "The Blind Man Who Did Not Want to See Titanic" mindestens noch einen Gang zu. Was als Studie der Eingeschränktheit eines Menschen mit mehrfacher Behinderung in der Wohnung beginnt, entwickelt sich bald zum Road-Movie und Thriller und ist im Kern natürlich durchgehend ein Liebesfilm, der davon erzählt, welche Wege und Gefahren man für die Liebe aus sich nimmt und wie man, getrieben von der Sehnsucht nach einem Treffen mit der Geliebten, schließlich auch größte Hindernisse überwindet.


Beeindruckend ist dabei einerseits die Unbekümmertheit, mit der Nikki, der auch für das Drehbuch verantwortlich zeichnet, mit dem Thema Behinderung umgeht, auf jede Betulichkeit verzichtet und seinen Protagonisten nicht schont. Andererseits besticht auch die radikale formale Gestaltung, die konsequent durchgehalten wird. Viel mehr als das Gesicht von Jakko, der vom selbst blinden und gehbehinderten Laien Petri Poikolainen mit großer Authentizität und Intensität gespielt wird, bekommt man hier während des ganzen Films nicht zu sehen, alles andere ist so schemenhaft und unscharf wie es die Welt für Jakko ist. – So versetzt dieser Film auch eindrücklich in die Erfahrungswelt eines Blinden.


The Blind Man Who Did Not Want to See Titanic Finnland 2021 Regie: Teemu Nikki mit: Petri Poikolainen, Marjaana Maijala, Samuli Jaskio, Rami Rusinen, Hannamaija Nikander, Matti Onnismaa Länge: 82 min.



Läuft derzeit in den Schweizer Kinos, z.B. im Kinok St. Gallen


Trailer zu "The Blind Man Who Did Not Want to See Titanic"


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