top of page

Tardes de soledad – Nachmittage der Einsamkeit

  • Autorenbild: Walter Gasperi
    Walter Gasperi
  • vor 10 Stunden
  • 4 Min. Lesezeit
"Tardes de soledad - Nachmittage der Einsamkeit": Ebenso verstörender wie meisterhafter Dokumentarfilm über den Stierkampf
"Tardes de soledad - Nachmittage der Einsamkeit": Ebenso verstörender wie meisterhafter Dokumentarfilm über den Stierkampf

Der peruanische Star-Torero Andrés Roca Rey in der Arena: Seine machohaften Posen, sein Gieren um Beifall, aber auch seine Kunst und sein Mut und dann wieder das Sterben der Stiere. – Albert Serras kommentarloser Dokumentarfilm über den Stierkampf ist nicht nur bildstark, sondern entwickelt auch immersive Kraft und bleibt aufregend ambivalent.


Ernest Hemingway war fasziniert vom Stierkampf und dessen 1932 erschienener Essay "Death in the Afternoon" ("Tod am Nachmittag") dürfte Albert Serra zum Titel seines ersten Dokumentarfilms inspiriert haben. Auch der US-Regisseur Budd Boetticher begeisterte sich sein Leben lang für den Stierkampf, ließ sich selbst zum Torero ausbilden, begann seine Film-Karriere als technischer Berater für Rouben Mamoulians Stierkampffilm "Blood and Sand" ("König der Toreros", 1941), drehte mit "Bullfighter and the Lady" (1951) selbst einen zentralen Film zum Thema und arbeitete über Jahrzehnte an einem Dokumentarfilm über den mexikanisch-spanischen Torero Carlos Arruza, bis 1972 endlich "Arruza" veröffentlicht wurde.


"Blood and Sand" wäre auch ein treffender Titel für den 2024 beim Filmfestival von San Sebastian mit der Goldenen Muschel ausgezeichneten Film des 50-jährigen Katalanen. Das Braun des Sands der Arena und das Rot des Bluts sowie des Tuchs des Toreros (muleta) und der schützenden roten Holzplanken der Arena drücken zusammen mit dem Schwarz der Stiere und des Huts des Toreros (montera) sowie den mit Gold, Silber und farbiger Seide bestickten Anzügen (Traje de luces) "Tardes de soledad" ihren visuellen Stempel auf.


Wie aus der Farbpalette Grün oder Blau nahezu gänzlich verbannt sind, so verzichtet Serra auch auf weite Einstellungen. Keine Totale gewährt hier Überblick, sondern mittels Teleobjektiven ist die Kamera von Albert Tort Pujol, der zusammen mit dem Regisseur auch für den Schnitt verantwortlich zeichnet, so nah am Geschehen dran, dass die Bilder teilweise fast ins Abstrakte verfließen.


Visuell ausgespart bleibt das Publikum, ist aber mit seinem Beifall und Johlen akustisch ungemein präsent. Schon mit den ersten langen Einstellungen stellt Serra die Kontrahenten einander gegenüber, wenn auf eine nahe Aufnahme eines frontal in die Kamera blickenden, schnaubenden schwarzen Stiers auf den peruanischen Star-Torero Andrés Roca Rey geschnitten wird, der mit seiner Entourage in starrer halbnaher Einstellung mit frontalem Blick in die Kamera in seinem Kleinbus erfasst wird.


Wie der Stierkampf ritualisiert ist, so hat auch Serra, der zuletzt mit dem Südseefilm "Pacifiction" für Aufsehen sorgte, seinen Dokumentarfilm förmlich ritualisiert. Direct Cinema könnte man diesen Film im Verzicht auf Kommentar, Interviews und Inserts nennen, doch dafür spielt die kunstvolle Gestaltung gegenüber der Vermittlung von Informationen eine viel zu große Rolle.


Über drei Jahre haben Serra und Pujol an 14 Corridas gedreht und anschließend in zwei Jahren die 700 Stunden Film, die sie aufgenommen haben, geschnitten. Auf alle Hintergrundinformationen wird verzichtet, vielmehr beschränkt sich Serra darauf sechsmal Roca Rey in der Arena zu zeigen und dazwischen jeweils die halbnahen Einstellungen im Bus zu wiederholen. Nur einmal bietet eine Szene im Hotel Einblick, wie der Torero mit Hilfe eines Assistenten seine Uniform anzieht.


Die Redundanzen, die sich in der Wiederholung der Szenen entwickeln, korrespondieren mit der Redundanz und Monotonie der Stierkämpfe, die an die Kritik des Plinius des Jüngeren an den antiken Wagenrennen erinnert (Briefe IX 6). Immer nur das Gleiche werde hier geboten, monierte der römische Autor schon im ersten Jahrhundert nach Christus, doch gleichzeitig führt "Tardes de soledad" auch den Mut und die Kunst des Toreros vor Augen, wenn dieser mit seinem Tuch den Stier um sich kreisen lässt, ehe er ihm mit seinem Säbel den tödlichen Stich versetzt.


Große immersive Kraft entwickelt der Film in den in langen Einstellungen gefilmten Kämpfen und auch die Gefahr, der sich der Torero aussetzt, wird nicht ausgespart, wenn er mehrfach vom Stier angegriffen und verletzt wird. Andererseits deckt Serra aber auch sein gockelhaft-narzisstisches Gehabe auf, wenn er mit seinen Gesten und Blicken immer nach dem Beifall des Publikums giert. Assoziationen an antike Gladiatorenkämpfe weckt dabei das Toben der unsichtbar bleibenden Zuschauer:innen.


Ebenso faszinierend wie nachwirkend ist dieser Dokumentarfilm in seiner Ambivalenz und Uneindeutigkeit. Da steht nämlich nicht nur der Kunstfertigkeit des Toreros schlussendlich bei jeder Corrida das Sterben des Stiers gegenüber, der dann von zwei Pferden an Seilen aus der Arena geschleift wird, sondern die Maskulinität und das Macho-Gehabe des Toreros wird auch von einer Feminität seines Aussehens und seiner Kleidung kontrastiert.


Denn Roca Rey erscheint mehr als zarter Jüngling denn als kräftiger Mann und die rosa Strümpfe und ein seidener Body verstärken diese Weiblichkeit. In Kontrast steht er mit dieser Feminität auch zum mächtigen Stier, der dennoch keine Chance hat, da er in der Arena von den Picadores (Lanzenreitern) und den Banderillos, die bunte Spieße in den Rücken des Stiers stecken, geschwächt wird, ehe der Torero selbst auftritt.


Ein verstörender Kontrast stellt sich aber auch durch den Gegensatz von blutigem Geschehen in der Arena und der Schönheit der Bilder ein. - Da mag sich "Tardes de soledad" auch jedes offenen Kommentars verweigern, so entwickelt sich dieses ebenso faszinierende wie schwer zu ertragende Meisterwerk im ungefilterten und hautnahen Blick auf die tödlich endende Show, doch zu einem entschiedenen Statement gegen diese brutale Tradition, die vor allem von Tierschützern immer wieder kritisiert wird.



Tardes de soledad - Nachmittage der Einsamkeit Spanien / Frankreich / Portugal 2024 Regie: Albert Serra Dokumentarfilm mit: Andrés Roca Rey Länge: 125 min.


Läuft derzeit im Kinok St. Gallen.

Spielboden Dornbirn: Di 11.11. + Do 20.11. - jeweils 19.30 Uhr


Trailer zu "Tardes de soledad - Nachmittage der Einsamkeit"


Kommentare


bottom of page