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  • AutorenbildWalter Gasperi

Pacifiction


Betörend schön, rätselhaft und sehr langsam: Der Katalane Albert Serra folgt einem französischen Beamten 162 Minuten durch Tahiti bei seinen Recherchen über Gerüchte zu bevorstehenden Atombomben-Tests. – Kein Thriller, sondern dessen Dekonstruktion, mehr Stimmung als Erzählung und doch auch eine Reflexion über Kolonialismus.


Schon der Titel des neuen Spielfilms des katalanischen Videokünstlers Albert Serra, der mit dem Casanova-Dracula-Film "Història de la meva mort - Geschichte meines Todes" 2013 in Locarno den Goldenen Leoparden gewann und dem mit "La muerte de Luis XIV. - Der Tod von Ludwig XIV." (2019) ein Publikumserfolg in den Arthouse-Kinos gelang, lässt vielfältige Interpretationen zu. Meint "Pacifiction" eine Verballhornung aus Pazifik und Fiktion oder ist der Titel wörtlich zu übersetzen als "Unterwerfung", bei der freilich mit "paci" gleichzeitig euphemistisch eine friedliche Komponente ins Spiel gebracht wird.


Beide Interpretationen passen auf den Film, denn einerseits handelt es sich um eine zur Gänze im Pazifik spielende Fiktion, andererseits geht es aber auch um Machtverhältnisse und Kolonialismus. Im Mittelpunkt steht der französische Hochkommissar De Roller (Benoît Magimel), der der Vertreter der Kolonialmacht in den Überseegebieten in Polynesien ist. Ihm folgt Serra 162 Minuten und doch kommt man diesem Mann in weißem Anzug und mit dunkler Sonnenbrille nicht näher.


Als die Einheimischen De Roller über Gerüchte informieren, dass Frankreich plant Atombomben-Tests, die im und um das südpazifische Mururoa-Atoll von 1966 bis 1996 durchgeführt wurden, wiederaufzunehmen, beginnt er zu recherchieren. So spielt Serra mit den Mustern des Thrillers und des Film noir, doch wie der Rumäne Corneliu Porumboiu in "La Gomera – Verpfiffen und verraten" dekonstruiert er das Genre.


Er präsentiert zwar die klassischen Figuren und Schauplätze des Genres vom Hochkommissar, der den Detektiv ersetzt, über einen schummrigen Nachtclub samt zwielichtigem Besitzer bis zu einer schönen Polynesierin, die zu De Roller ebenso wie zu einem mysteriösen Portugiesen Kontakt pflegt, einem Admiral und einem englisch sprechenden Mann, der ein amerikanischer Agent sein könnte, doch die Geheimnisse dieser Figuren werden nie gelüftet.


Und trotz aller Recherchen De Rollers bleibt auch die Handlung bewusst im Diffusen und Vagen. Kolonialismuskritik wird zwar geübt, wenn die Indigenen sich bei De Roller beschweren, dass ihnen kein Eintritt in das neue Casino gewährt wird, und sie wohl für Touristen Tänze in traditioneller Kleidung proben. Auch stehen die angesprochenen Feiern zum 14. Juli im Kontrast zur Situation Tahitis und wirkungslos scheinen auch die angekündigten Proteste gegen die vermuteten Atombomben-Tests der Kolonialmacht, deren neues Weltmachtstreben der namenlos bleibende Admiral am Ende feiert, doch dieser gesellschaftskritische Akzent spielt eher eine untergeordnete Rolle.


Ganz im Zentrum des Films steht nämlich der rätselhafte De Roller. Er pflegt Kontakte zu den Einheimischen ebenso wie zum Chef des Nachtclubs oder einer Schriftstellerin mit dem Namen Romane und versucht auch vom Admiral Näheres zu erfahren, verliert sich bei seinen Ermittlungen aber zunehmend. Sieht er auf dem Meer wirklich ein auftauchendes U-Boot oder ist das eine Sinnestäuschung und werden die jungen Frauen in Ruderbooten wirklich zur Besatzung der U-Boote gebracht?


Statt Dinge aufzuklären, beschränkt sich Serra darauf, das zu zeigen, was auch sein Protagonist bei seinen Streifzügen über die Insel sieht und hört. Ständig ist man auf De Rollers Wissensstand. Mit ihm tappt man nicht nur im Dunkeln, sondern fliegt auch mit einem Kleinflugzeug zu einer Nachbarinsel oder erlebt – in der schönsten Szene des Films – hautnah die Wellenreiter vor der Küste und taucht mit De Roller mit einem Jetski in die gewaltigen Wellenberge ein.


Schnelles Action-Kino könnte hier geboten werden, doch Serra setzt auf Entschleunigung. Statt stringent eine Handlung zu entwickeln, lässt er die Zuschauer:innen in betörend schönen, aber kitschfreien Bildern des Meeres, des grünen Dschungels oder der Sonnenuntergänge in diese ferne Welt eintauchen und sich in dieser traumartigen Atmosphäre verlieren. Lässt man sich darauf ein, kann "Pacifiction" auch durch den langsamen Erzählrhythmus eine Sogwirkung entwickeln, durch die sich die lethargische Inselstimmung in den Kinosaal ausbreitet.



Pacifiction Frankreich / Spanien / Deutschland / Portugal 2022 Regie: Albert Serra mit: Benoît Magimel, Pahoa Mahagafanau, Matahi Pambrun, Marc Susini, Alexandre Melo, Sergi López, Montse Triola Länge: 162 min.


Läuft derzeit in den Kinos, z.B. im Kinok St. Gallen


Trailer zu "Pacifiction"


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