Ernest Cole: Lost and Found
- Walter Gasperi
- vor 7 Stunden
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Raoul Peck zeichnet in seinem Dokumentarfilm nicht nur das Leben des südafrikanischen Fotografen Ernest Cole nach, sondern bietet durch dessen ausdrucksstarken Fotos auch Einblick in die Schrecken des Apartheidregimes ebenso wie in den Rassismus in den USA.
Der 1953 in Haiti geborene Raoul Peck machte schon früh die Erfahrung eines Lebens im Exil, verließen seine Eltern doch schon mit dem Siebenjährigen bald nach der Machtübernahme durch Diktator François Duvalier die Karibikinsel in Richtung des damaligen Belgisch-Kongo. Dort erlebte Peck als Kind das Ende der Kolonialherrschaft.
Als Jugendlicher besuchte der Sohn eines Mitarbeiters der Landwirtschaftsorganisation der UNO (FAO) Schulen in den USA und Frankreich und absolvierte anschließend in Berlin ein Studium zum Wirtschaftsingenieur. Mehrere Jahre arbeitete er aber in New York als Taxifahrer, Journalist und Fotograf, ehe er an der deutschen Film- und Fernsehakademie Film studierte. Schon sein Abschlussfilm "Haitian Corner" ("New York ist nicht Haiti", 1987) wurde beim Filmfestival von Locarno ausgezeichnet.
Die Auseinandersetzung mit Ungerechtigkeit und Unterdrückung zieht sich durch das filmische Schaffen Pecks, der von 1996 bis 1997 auch Kulturminister Haitis war. Nachdem er schon 1990 im Essayfilm "Lumumba: La mort du prophète" ("Lumumba: Tod des Propheten", 1991) die Ermordung des kongolesischen Politikers Patrice Lumumba (1925 – 1961) aufgearbeitet hatte, widmete er sich im packenden Spielfilm "Lumumba" (2000) nochmals dem Schicksal dieses charismatischen Vorkämpfers der afrikanischen Unabhängigkeitsbewegung.
Fokussierte Peck im Spielfilm "Als das Morden begann" ("Sometimes in April", 2010) auf den Völkermord in Ruanda, so nahm er in "Mord in Pacot" (2010) die sozialen Hierarchien in seinem Heimatland Haiti unter die Lupe. Dokumentarisch zeichnete er dagegen in "I Am Not Your Negro" (2016) das Leben des afroamerikanischen Autors James Baldwin nach und verknüpfte dies mit der Geschichte der Rassendiskriminierung und der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung im 20. Jahrhundert.
Ausgangspunkt für "Ernest Cole: Lost and Found", der beim Filmfestival von Cannes 2024 mit dem Oeil d'or als bester Dokumentarfilm ausgezeichnete wurde, waren 60.000 Negative des titelgebenden südafrikanischen Fotografen, die über Jahrzehnte unbeachtet in einem Safe einer schwedischen Bank lagen, bis sie 2017 wieder entdeckt wurden. In diesen, in den 1970er Jahren entstandenen Fotos dokumentiert Cole vor allem afroamerikanischen Alltag und Rassendiskriminierung in den USA.
Berühmt war der 1940 in der Nähe der südafrikanischen Hauptstadt Pretoria geborene Fotograf aber davor geworden. Als 19-Jähriger begann er unter dem Eindruck von Henri Cartier-Bressons Fotobuch "The People of Moscow" heimlich die alltägliche Rassendiskriminierung in Südafrika mit weißen Herren und schwarzen Dienern, Zwangsumsiedlungen und Trennung im öffentlichen Leben zu dokumentieren. In Südafrika war eine Veröffentlichung dieser Fotos undenkbar.
Nur unter Vortäuschung, dass er ein "Farbiger" und kein "Schwarzer" sei, konnte er 1966 sein Heimatland verlassen und seine Fotos außer Landes schmuggeln. In den USA veröffentlichte er im folgenden Jahr sein Aufsehen erregendes Fotobuch "House of Bondage" ("Haus der Knechtschaft"), in dem er schonungslos die Schrecken der Apartheid dokumentierte. Denn auch wenn Cole immer wieder erklärte, dass er nur beobachte und nicht urteile, so entwickelt sich doch allein aus der Dokumentation der Realität eine erschütternde Anklage. Verbannt wurde er dafür aus Südafrika, die Staatsbürgerschaft wurde ihm entzogen und es gab für ihn keine Hoffnung mehr auf Rückkehr.
Peck selbst hält sich in seinem dichten Dokumentarfilm zurück. Er setzt ganz auf die weitgehend schwarzweißen, ausdrucksstarken Fotos und einen vom Schauspieler Lakeith Stanfield aus der Perspektive Coles gesprochenen Kommentar. In Ich-Perspektive wird so durch die aus Coles Briefen, Unterhaltungen und Interviews, aber auch aus Aussagen von Bekannten und Freunden kompilierten Ausführungen ein dichter und sehr persönlicher Einblick in Leben und Kunst des Südafrikaners, der in den 1970er Jahren in Vergessenheit geriet, vermittelt.
Gleichzeitig zeichnet der Film aber auch ein bewegendes Bild vom bitteren Leben im Exil in den USA und zeitweise in Schweden. Dieses erfüllte Cole nämlich zunehmend mit Heimweh, stürzte ihn in Depressionen und ließ ihn den Boden unter den Füßen verlieren und obdachlos werden, ehe er 1990 kurz vor dem Ende der Apartheid im Alter von nur 49 Jahren an Krebs starb.
Untrennbar verknüpft ist diese Biographie mit der Geschichte des Apartheidregimes, an das einerseits Coles Fotos erinnern und das andererseits durch Archivmaterial von UNO-Sitzungen, bei denen mehr symbolische als wirksame Boykott-Maßnahmen beschlossen werden, bis hin zur Wahrheits- und Versöhnungskommission in einen Kontext gestellt wird.
So entreißt "Ernest Cole: Lost and Found" mit seinen zahllosen großartigen Fotos diesen bedeutenden Fotografen dem Vergessen und erinnert gleichzeitig an Gewalt, Unterdrückung und Diskriminierung, die die schwarze Bevölkerung nicht nur in Südafrika, sondern auch in den vermeintlich so freien USA auch noch in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts erfahren musste und immer noch muss. Drastisch auf den Punkt bringt dies Cole, wenn er feststellt, dass er in Südafrika zwar stets fürchten musste verhaftet zu werden, in den Südstaaten der USA aber, erschossen zu werden.
Ernest Cole: Lost and Found
Frankreich / USA 2024 Regie: Raoul Peck Dokumentarfilm Länge: 105 min.
Läuft derzeit in den österreichischen und deutschen Kinos und ab 8. Mai in den Schweizer Kinos, z.B. im Kinok St. Gallen und im Skino Schaan sowie am 12.6. und am 27.6. am Spielboden Dornbirn.
Trailer zu "Ernest Cole: Lost and Found"
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