László Nemes folgt in seinem nach dem mit dem Oscar ausgezeichneten „Son of Saul“ zweiten Spielfilm einer jungen Frau durch das Budapest der untergehenden k. u. k. Monarchie. – Ein visuell brillanter, erzähltechnisch radikaler Film, der es dem Zuschauer in seinem subjektiven Blick aber nicht leicht macht.
Unerhört war, was der Ungar László Nemes vor vier Jahren in „Son of Saul“ wagte: Konsequent folgte der Film einem jungen Juden durch seinen Alltag im Vernichtungslager Auschwitz, sparte jeden Kontext aus und ließ den Hintergrund in Unschärfe verschwimmen.
Diese radikal subjektive Erzählweise kennzeichnet von der ersten Einstellung an auch „Sunset“. Ein Insert verankert die Handlung am Vorabend des Ersten Weltkriegs in Budapest, der Rivalin und Schwesterstadt Wiens im habsburgischen Vielvölkerstaat, auf dessen nationalen Spannung auch sogleich hingewiesen wird.
Der Schleier eines Huts wird gelüftet und der Blick öffnet sich auf eine junge Frau. Diese Irisz Leiter (Juli Jakob) will aber in diesem vornehmen Budapester Hutgeschäft keinen Hut kaufen, sondern sich vielmehr um die ausgeschriebene Stelle bewerben. Einst waren ihre Eltern Besitzer des Geschäfts, kamen dann aber bei einem Brand um. Irisz wurde als Kleinkind in ein Waisenhaus gegeben und machte dann eine Ausbildung als Hutmacherin in Triest.
Der neue Besitzer des Geschäfts weist die junge Frau aber ab und will, dass sie die Stadt verlässt. Irisz beginnt aber Nachforschungen anzustellen und stößt auf die Spur eines Bruders, der ihr bislang unbekannt war. Während so einerseits eine große Festwoche zum 30-jährigen Bestehen des Hutgeschäfts gefeiert wird, taucht die Protagonistin immer mehr in den Untergrund ab, stößt auf geheime nächtliche Zusammenkünfte und verbrecherische oder revolutionäre Aktionen.
Von der ersten Einstellung an wird die sehr bewegliche Kamera von Mátyás Erdély 142 Minuten lang entweder immer auf das Gesicht von Irisz blicken oder ihr im Rücken folgen. Konsequent in ihre Perspektive wird so der Zuschauer gepresst. Er hört und sieht nicht mehr als die Protagonistin, ist nur auf ihrem Wissensstand und seine Verunsicherung wächst mit ihrer.
Mit Irisz taucht der Zuschauer so in ein Labyrinth ein. Sukzessive erhält man zwar Informationen, aber auf jede Erkenntnis folgt auch schon wieder ein neues Rätsel und auch am Ende bleibt vieles im Dunkel. Etwas ratlos und auch frustriert lässt „Sunset“, dessen Titel Nemes als Reverenz an Friedrich Wilhelm Murnaus Stummfilmmeisterwerk „Sunrise“ wählte, so den Zuschauer zurück, denn die Handlungen lassen sich durch den verengten Blick nie klar deuten.
Andererseits gelingt es dem 42-jährigen Regisseur gerade mit diesem Ansatz den Zuschauer in diese Welt eintauchen zu lassen und ein Gefühl für die Stimmung in der untergehenden k. u. k. Monarchie zu evozieren, in der der Glanz auf der einen Seite, gärenden Unruhen auf der anderen gegenübersteht.
Während andere Historienfilme mit Opulenz ein Gesellschaftsbild zeichnen, bleibt Nemes ganz nah bei der Protagonistin. Allein mit einer brillanten Musik- und Tonspur, bei der man aus dem Off das Geschrei auf einem Markt, das Rattern von Autos oder Pferdegetrappel sowie ein Gemisch von deutschen und ungarischen Stimmen hört, beschwört er die Atmosphäre dieser Zeit und knüpft dabei an die Romane Stefan Zweigs und Arthur Schnitzlers an.
Beginnt „Sunset“ dabei im warmen gelben Abendlicht und dominiert von warmen Farben so verdüstern sich mit Fortdauer die Töne zunehmend, gleichzeitig macht Iris in diesem Verlauf aber auch eine Entwicklung von einer schüchternen zu einer entschlossen agierenden Frau durch, die auch in eine Männerrolle schlüpft, um ihre Ziele zu erreichen. - Näher kommt man ihr deswegen aber nicht, sondern wie die Handlung wird auch sie selbst immer undurchsichtiger.
Mehr Stimmungsbild als Erzählung ist „Sunset“ und zielt mehr auf Fühlen und Immersion als Verstehen ab. In den Spannungen der Habsburgermonarchie, dem Gegensatz zwischen der Oberschicht, für die das Hutgeschäft und seine Kunden stehen, und der Unterschicht von Kutschern und einfachen Arbeitern, sieht Nemes die Wurzeln für den Untergang dieser Welt, die einerseits noch glanzvoll dasteht, während unter der Oberfläche schon der Verfall sichtbar wird.
Konsequent endet „Sunset“ so auch in einem Epilog in den Schützengräben des Ersten Weltkriegs. Nicht nur in scharfem Kontrast zum Vorigen steht diese lange Kamerafahrt durch einen verregneten Schützengraben mit Soldaten in blaugrauen Uniformen, sondern macht den Bruch, den diese große Katastrophe Europas vor 100 Jahren brachte, auch markant deutlich.
Läuft derzeit im Cinema Dornbirn (ungar. O.m.U.)
Trailer zu "Sunset"
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