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  • AutorenbildWalter Gasperi

Streaming: Une Colonie


Ein zwölfjähriges Mädchen im Spannungsfeld zwischen dem Wunsch dazuzugehören und Distanz zum oberflächlichen Leben ihrer Mitschülerinnen. Mit viel Feingefühl und wunderbar natürlichen jungen HauptdarstellerInnen erzählt die Frankokanadierin Geneviève Dulude-De Celles von Coming-of-Age und Selbstfindung in der kanadischen Provinz. Bei Outside the Box kann das auch atmosphärisch starke Spielfilmdebüt in der Schweiz und in Liechtenstein gestreamt werden.


Unbekümmert spielt die kleine Camille (Irlande Côté) in einem Sumpf. Egal ist es ihr, wenn sie schmutzig wird, versucht aber einzugreifen, als eine Henne von ihren Artgenossen zu Tode gepickt wird. Das Mädchen stellt sich sogar einem Hund, der das getötete Tier wegschleppen will, auch wenn sie dafür von anderen Kindern ausgelacht wird.


Es ist eine kleine Szene, mit der "Une Colonie" beginnt, und dennoch wird hier schon Grund gelegt, was sich durch Geneviève Dulude-De Celles Spielfilmdebüt zieht: Wie hier die Frage angerissen wird, ob das Recht des Stärkeren gelten soll oder man sich für die Schwachen einsetzen muss, und im tierischen wie im menschlichen Bereich einer Gruppe ein Individuum gegenübergestellt wird, so werden diese Themen auch in der Schule im Gemeinschaftskunde-Unterricht immer wieder behandelt.


Wenig interessieren sich die SchülerInnen zwar für den Humanismus der frühen Neuzeit und den Umgang der europäischen Eroberer mit der indigenen Bevölkerung Amerikas, der anhand der konträren Positionen von Juan Ginés de Sepulveda und Bartolomé de Las Casas besprochen wird, doch unaufdringlich zeigt Dulude-De-Celles, dass diese Fragen im Grunde ganz zentral auch das Zusammenleben der Teenager, zu denen auch ein junger Indianer zählt, betreffen.


Nie drängt sich dieser Unterbau aber in den Vordergrund, sondern wird ganz selbstverständlich an der Geschichte von Camilles zwölfjähriger Schwester Mylia (Émilie Bierre) herausgearbeitet. Im Gegensatz zu Camille agiert sie nicht unbefangen, ist in sich gekehrt und strebt danach, von ihren Mitschülerinnen angenommen zu werden. Innerlich fühlt sie sich aber gleichzeitig viel mehr mit dem im nahen Abenaki-Reservat lebenden Indianer Jimmy (Jacob Whiteduck-Lavoie) verbunden.


Nah dran ist Dulude-De Celles an der von Émilie Bierre wunderbar natürlich gespielten Mylia. Fast in jeder Szene ist sie präsent, intensiv werden so auch in Blicken und Gesten die Unsicherheit und die Sehnsucht nach Orientierung und einem klaren Weg sichtbar. Die Einladung auf eine Party einer Mitschülerin will sie nicht ausschlagen, wohl fühlt sie sich dort aber dann nicht und erlebt ihren ersten Rausch. Doch obwohl Mylia schon hier merkt, dass diese Feiern eigentlich nicht ihre Sache sind, nimmt sie dennoch auch die Einladung zu einer Halloween-Party an, wird sich dabei aber endlich bewusst, dass sie einen eigenen Weg gehen muss.


Wie dieses Thema der Identitätsfindung jenseits von Gruppenvorgaben symbolisch auch in wiederholten Gesprächen über freies Malen statt nachziehen von Linien verhandelt wird, so steht auch das Fahrradfahren ohne Stützräder, das Mylia schließlich Camille beibringt, für diese Selbstfindung und Selbstständigkeit.


Unaufdringlich und nie moralisierend erzählt Dulude-De Celles von diesem Coming-of-Age. Sie vertraut auf ihre starken SchauspielerInnen und ihren genauen Blick nicht nur auf Mylia, sondern auch auf deren Mitschülerinnen, Schulsituationen und Partys. Auf welcher Seite die Regisseurin steht, ist zwar klar, aber auf polemische Schwarzweißmalerei und Verurteilung der anderen Teenager verzichtet Dulude-De Celles.


Geschult hat sie diesen ebenso genauen wie mitfühlenden und verständnisvollen Blick bei ihrem zuvor gedrehten Dokumentarfilm " Bienvenue à F.L.", in dem sie die Welt von High-School-Schülern porträtierte. Aber sie versteht es auch die Handlung atmosphärisch dicht in der von den Kamerafrauen Léna Mill-Reuillard und Etienne Roussy präzise eingefangenen spätsommerlichen kanadischen Provinz zu verankern.


Ganz auf Augenhöhe von Mylia, Camille und Jimmy bewegt sich dieser leise, gerade in seiner Unauffälligkeit und Alltäglichkeit so überzeugende Film, die Eltern bleiben weitgehend außen vor – und doch werden diese am Ende eine Entscheidung treffen, die dem Leben der beiden Mädchen wieder eine neue Richtung geben wird. Gerade aber, wie die beiden Schwestern diesen schweren Schlag wieder meistern, zeigt, wie sie durch die Erfahrungen gereift sind und wie Mylia nun schon fest im Leben steht.


Streaming in der Schweiz und in Liechtenstein bei Outside the Box


Trailer zu "Une Colonie"



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