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  • AutorenbildWalter Gasperi

Streaming: Deux Jours, une nuit - Zwei Tage, eine Nacht


Ein Wochenende bleibt Sandra, um ihre Arbeitskollegen zu überreden, zugunsten ihres Arbeitsplatzes auf eine Prämie zu verzichten. – Marion Cotillard trägt mit einer schauspielerischen Tour de Force das atemberaubend dichte Meisterwerk von Jean-Pierre und Luc Dardenne, das bei filmingo.ch ab 16.4. gestreamt werden kann.


Mit einer Großaufnahme von Sandra (Marion Cotillard), die durch einen Anruf geweckt wird, beginnt „Deux jours, une nuit“ und in jeder Szene, ja fast in jeder Einstellung, wird sie in den folgenden 95 Minuten zu sehen sein. Hautnah folgt ihr die mobile Kamera im Rücken oder an der Seite, macht ihre Verzweiflung und Gedrängtheit unmittelbar erfahrbar. Eine Totale, die einen Überblick über das geographische Umfeld vermittelt, gibt es erst nach rund einer Stunde.


Von der ersten Einstellung an packt das meisterhafte Sozialdrama der belgischen Regiebrüder Jean-Pierre und Luc Dardenne, die mit "Rosetta" und "L´enfant" schon zweimal die Goldene Palme von Cannes gewonnen haben. Keinen Moment des Leerlaufs gibt es, keinen Schnörkel, keine überflüssige Szene. Die Dringlichkeit, die schon der knappe Titel andeutet, kennzeichnet den ganzen Film.


Nach einer Depression will Sandra wieder in ihren Job zurückkehren, doch in der Firma hat man erkannt, dass man mit wenigen Überstunden auch ohne sie auskommt. Statt Sandra wieder einzustellen, will der Chef den 16 Angestellten eine Prämie von 1000 Euro bezahlen. Am Montag soll darüber abgestimmt werden. Ein Wochenende bleibt Sandra Zeit ihre Arbeitskollegen zu überreden, zugunsten ihres Jobs und gegen die Prämie zu stimmen.


Eine Liste wird so abgearbeitet, doch "Deux jours, une nuit" verfällt nie ins Repetitive. Denn jeder Mitarbeiter, den Sandra aufsucht, hat andere, aber vielfach, durchaus verständliche Gründe, wieso er auf die Prämie nicht verzichten kann oder will. Der Bogen spannt sich von Ausgaben für das Studium der Tochter über die Neugründung eines Haushalts bis zu Angst vor Repressionen durch den Vorarbeiter und Kollegen, aber Sandra erfährt auch bewegende Momente der Solidarität.


Völlig unglamourös spielt Marion Cotillard diese Frau, die mehrmals von ihrem Mann motiviert werden muss, für ihren Job zu kämpfen. Fließend wechselt ihre Stimmung zwischen Hoffen und drohendem Zusammenbruch und immer wieder plagen sie auch Schuldgefühle, gefährdet sie doch mit ihrer Bitte die Existenz der Kollegen. Wie in "Rosetta" inszenieren die Dardennes diesen verzweifelten Kampf um Job und Würde quasi als Kriegsfilm in der modernen Arbeitswelt und zeigen eindringlich, wie die Solidarität durch den Kampf um die Existenz zersetzt wird.


Nicht mehr um Menschen, die am Rand der Gesellschaft stehen wie die auf dem Trailerpark lebende Rosetta ("Rosetta"), die illegale Arbeitsmigrantin Lorna ("Le silence de Lorna") oder den vom Vater im Stich gelassenen Jungen ("Le gamin au velo") geht es hier, sondern erstmals um die untere Mittelschicht, die ständig in Gefahr ist, in Armut und Not abzustürzen.


Die Gefahr dabei ins Sentimentale abzugleiten umschiffen die Dardennes mit ihrer trocken-kompakten Inszenierung und der ebenso präzisen wie differenzierten Figurenzeichnung souverän. Keine Schuldzuweisungen gibt es hier und nicht nur Sandra, sondern auch ihre Kollegen sind Opfer eines Systems. Dennoch endet "Deux jours, une nuit" nicht niederschmetternd, sondern zeigt auch die Kraft, die man aus erfahrener Solidarität schöpfen kann.


Streaming (Schweiz / Liechtenstein) ab 16.4. auf www.filmingo.ch


Trailer zu "Deux jours, une nuit"


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