
Ein Mann reist von den USA nach Marseille, um seiner dort wegen Mordes inhaftierten Tochter zu helfen. – "Spotlight"-Regisseur Tom McCarthy macht daraus kein Justiz- oder Gerichtsthriller, sondern das packende Drama eines von Matt Damon großartigen gespielten schuldgeplagten Mannes und deckt die Bruchlinien zwischen den USA und Europa auf.
Die Geschichte einer amerikanischen Studentin, die in Europa wegen Mordes an ihrer Geliebten zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt wird, erinnert an den Fall Amanda Knox und Tom McCarthy erklärte auch in Interviews, dass ihn dieser Fall inspiriert habe. Kritik von Knox hat dies nach der Filmpremiere hervorgerufen, denn sie sieht ihren Fall für einen "True Crime"-Film missbraucht. Verstehen kann man Knox, denn zweifellos problematisch ist, wie hier einerseits ihr von den Medien breit ausgewalzter Prozess zu Publicityzwecken verwendet wird, andererseits sich der Film aber sehr viele Freiheiten nimmt.
Im Film an sich gibt es dagegen keinen Hinweis auf das reale Vorbild und weder "based on a true story" noch "inspired by true events" liest man im Vor- oder Nachspann. Auch hat McCarthy die Handlung nicht nur von Perugia nach Marseille, sondern auch von 2007 in die 2010er Jahre widerlegt und fokussiert auch nicht auf der Gefangenen und ihrer Tat, sondern vielmehr auf ihrem Vater Bill Baker (Matt Damon).
Dass McCarthy den Fokus anders legt, deutet schon der Titel "Stillwater" an, der sich auf die Stadt in Oklahoma bezieht, aus der Baker und seine Tochter Allison (Abigail Breslin) stammen. Und in Oklahoma setzt der Film auch mit Aufräumarbeiten nach einem Tornado ein. In den zerstörten Gebäuden kann man dabei auch eine Metapher für den psychischen Zustand Bills sehen, dessen Frau Selbstmord begangen hat, der seinen Job als Bohrarbeiter verloren hat und sich mit Gelegenheitsarbeiten durchschlägt, schon mehrfach im Gefängnis saß und dessen Tochter seit fünf Jahren in Marseille inhaftiert ist.
Auf Schritt und Tritt folgt McCarthy diesem von Matt Damon zurückhaltend, aber intensiv gespielten Mann, in beinahe jeder Szene ist er präsent, ganz aus seiner Perspektive wird erzählt. Wenig gibt dieser Bill von sich preis, aber man spürt, dass er sich schuldig fühlt, weil er sich zu wenig um seine Tochter gekümmert hat und dass er nun wieder gut machen will, was er noch gut machen kann.
Fliegt er zunächst nur nach Marseille, um Allison im Gefängnis zu besuchen, bleibt er dort hängen, als sie ihm einen Brief gibt, in dem sie ihre Unschuld beteuert und die Anwältin bittet, den Fall neu aufzurollen. Als diese aber erklärt, dass alle Rechtsmittel ausgeschöpft seien und er und Allison die Sachlage akzeptieren müssten, beginnt er auf eigene Faust zu recherchieren. Da er kein Französisch kann, ist er aber auf Unterstützung angewiesen. Diese findet er in der Schauspielerin Virginie (Camille Cottin), die er mit ihrer kleinen Tochter Maya (Lilou Siauvaud) zufällig im Hotel kennenlernte.
Als die Recherchen aber erfolglos bleiben, wandelt sich "Stillwater" vom Thriller ganz zur Geschichte Bills, der in Marseille Fuß zu fassen versucht und in Virginie und Maya langsam eine neue Familie findet. Ganz offensichtlich will er dabei in der liebevollen Fürsorge für das kleine Mädchen jetzt das gut machen, was er bei seiner Tochter versäumt hat.
Unaufdringlich verhandelt McCarthy aber an Bill und Virginie auch die Bruchlinien zwischen den USA und Frankreich. Ganz unterschiedliche geographische Räume stellt der Amerikaner mit dem ländlichen Oklahoma und der Mittelmeerstadt Marseille hier schon einander gegenüber, doch zentraler sind die charakterlichen und gesellschaftlichen Differenzen.
Da steht auf der einen Seite der – durchaus klischeehaft gezeichnete - prototypische amerikanische Proletarier mit kariertem Arbeitshemd und Baseballkappe, der weder von Esskultur noch von Theater etwas versteht und hält, und auf der anderen Seite die kultivierte Französin. Ganz selbstverständlich ist es für ihn auch, dass er zu Hause zwei Waffen hat. Andererseits reagiert Virginie empört auf das rassistische Verhalten eines Café-Besitzers, der bereit ist, jeden Araber als Täter zu identifizieren, da sowieso alle Verbrecher seien, während Bill das egal ist, wenn er damit seiner Tochter helfen kann. Er schreckt dabei auch nicht vor Methoden zurück, die wohl gezielt an das Vorgehen der Amerikaner in Guantanamo erinnern, die wiederum nicht nur die französischen Behörden, sondern auch Virginie entschieden ablehnen.
Die Kunst McCarthys besteht darin, dass er diese Themen ganz selbstverständlich aus dem dicht gebauten Drehbuch heraus entwickelt und nie besonders forciert. Er beweist zwar auch, dass er souverän Suspense-Szenen inszenieren kann, hält sich aber weitgehend zurück, inszeniert unauffällig und überlässt den Raum ganz der Entwicklung Bills, der durch das Spiel Damons bis zum Ende ein ebenso spannender wie ambivalenter Charakter bleibt. Klassisches Happy End kann es hier keines geben, sondern bestenfalls ein gebrochenes mit der Erkenntnis, dass man innere Freiheit nur gewinnen kann, wenn man lernt die Dinge, die man nicht (mehr) ändern kann, zu akzeptieren.
Läuft derzeit in den Kinos, z.B. im Cinema Dornbirn
Trailer zu "Stillwater - Gegen jeden Verdacht"
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