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  • AutorenbildWalter Gasperi

Sorry We Missed You

Aktualisiert: 16. Feb. 2020


Ricky tritt einen neuen Job als Fahrer eines Paketdienstes an, doch die harten Arbeitsbedingungen zeigen zunehmend Auswirkungen auf seine Familie. – Mit genauem Blick für das Alltägliche, punktgenauen Dialogen und großartigen Schauspielern decken Ken Loach und Drehbuchautor Paul Laverty ein weiteres Mal herzzerreißend die verheerenden Folgen einer rein auf Profit ausgerichteten kapitalistischen Wirtschaft auf.


Zur schwarzen Leinwand hört man einen Mann über die verschiedenen Jobs sprechen, in denen er in der Baubranche gearbeitet hat. Erst wenn das Bild dazukommt, entpuppt sich die Szene als Bewerbungsgespräch.


Einen Job bei einem Paketdienst will der im nordenglischen Newcastle lebende zweifache Familienvater Ricky (Kris Hitchen) annehmen und der Manager preist ihm die Vorzüge eines Franchise als selbstsändiger Fahrer an: Freier Unternehmer sei er dabei und habe keinen Chef, erhalte keinen Lohn, sondern ein Honorar, habe keine fixe Arbeitszeiten, sondern müsse „nur“ seine Aufträge erledigen. Nötig sei für diese Arbeit natürlich ein Van, den er von der Firma teuer mieten könne oder aber selbst einen kaufen müsse.


Ricky und seine Frau Abbie (Debbie Honeywood) entscheiden sich für letzteres, müssen dafür aber ihren Kleinwagen verkaufen, mit dem sie als Hauskrankenpflegerin zu ihren Patienten fuhr. – Jetzt wird sie eben den Bus nehmen, hofft die Familie doch mit dem neuen Job den Traum vom eigenen Haus endlich zu verwirklichen. 2008 war man schon nah dran, doch dann verlor Ricky aufgrund der Wirtschaftskrise seinen Job, seither ist man aus den Schulden nicht mehr rausgekommen.


Bald zeigt sich freilich auch beim neuen Job, unter welchem enormen Zeitdruck die Fahrer stehen. Möglichst viel und möglichst schnell muss zugestellt werden, denn der Kunde wartet auf die Produkte, die er bei diversen Online-Versandhändlern bestellt hat. – Nicht nur der Manager der Firma, sondern auch der Kinozuschauer, der bei solchen Firmen Waren bestellt, wird hier kritisiert und erscheint als Teil des ausbeuterischen Wirtschaftssystems.


Im Zentrum des Films steht aber Rickys Familie, die unter den Arbeitsbelastungen von ihm und seiner Frau zunehmend zerbricht. In Parallelmontage schildern Ken Loach und sein Drehbuchautor Paul Laverty die Arbeit Rickys und die Abbies, die sich liebevoll um die alten und gebrechlichen Patienten kümmert, aber nicht für die Arbeitszeit, sondern nur für den jeweiligen Hausbesuch bezahlt wird, für Fahrtkosten und Fahrtzeit nicht entschädigt wird.


Weil keine Rede mehr vom Achtstundentag ist, sind Ricky und Abbie von der Früh bis in den späten Abend unterwegs, während die Kinder allein zu Hause sind. Per Handy gibt Abbie so der elfjährigen Liza Jane Anweisungen, dass sie das Essen in der Mikrowelle heiß machen, die Hausaufgaben machen und nicht zu viel am Computer sitzen soll. Der 16-jährige Seb dagegen nützt die Abwesenheit der Eltern zum Schwänzen der Schule und für Graffiti-Aktionen in der Stadt.


Immer öfter kommt es so zu heftigem Streit zwischen dem wegen Überlastung und Erschöpfung zunehmend leicht reizbaren Ricky und Seb, während Abbie immer wieder die Situation zu beruhigen versucht. Aber auch an Liza Jane gegen die familiären Spannungen nicht bruchlos vorüber, wie Schlafstörungen und Bettnässen zeigen.


Die Kunst von Loach und Laverty besteht im scheinbar Kunstlosen. Sie beschränken sich im Grunde darauf den Alltag dieser Familie zu schildern, verzichten auf dramatische Zuspitzungen, setzen Musik auch erst ganz am Ende ein. Wie viele Filme des Duos lebt auch „Sorry We Missed You“ vom genauen und detailreichen Blick auf die Arbeitsbedingungen und dem empathischen Blick auf die Protagonisten.


Rasch wächst einem so diese von den Verhältnissen gebeutelte Familie ans Herz, während die Schilderung der Arbeitswelt für soziale Erdung sorgt. Da lernt man Abbie als Krankenpflegerin kennen, die in ihren Patienten immer auch einen Menschen sieht, den sie so wie ihre eigene Mutter pflegen will, und wird vertraut mit den Belastungen der Gig Economy: Da wird Ricky morgens vom Manager beim Verladen der Pakete zur Eile angetrieben, muss sich auf seinen Fahrten mit unfreundlichen oder eben dem Titel entsprechend abwesenden Kunden ebenso wie mit Hunden herumschlagen, prallt mit der Bitte um ein paar freie Tage, um sich um die Familie kümmern zu können, auf taube Ohren, und muss sich im Krankheitsfall oder sonstiger Verhinderung selbst um einen Ersatzfahrer kümmern.


Und auf die zunehmend heftigeren Streite in der Küche der Mietwohnung folgen immer wieder leise Szenen, in denen Ricky seine Impulsivität und Heftigkeit bereut. Hier schaffen Loach und Laverty mit Abbie eine große, grenzenlos gütige und liebevolle Figur, die bedingungslos kämpft, um die Spannungen in ihrer Familie zu verringern und ein Zerbrechen zu verhindern. - In einer unmenschlichen Welt wirkt sie wie ein Leuchtturm der Menschlichkeit, der auch im Falle ihrer auf Hilfe angewiesenen Patienten immer wieder deren Würde betont.


Wie gewohnt bei Loach/Laverty sind die von Laien gespielten Figuren großartig besetzt und strahlen allein schon durch die unbekannten Gesichter große Natürlichkeit aus. Unterstützt wird der Eindruck von Authentizität aber auch ganz entscheidend von den großartigen Dialogen und nicht zuletzt dem nordenglischen Slang. Hier meint man eben nicht Schauspieler auf der Leinwand zu sehen, sondern reale Menschen, deren Schicksal zutiefst bewegt.

Läuft ab 28.2. in den österreichischen Kinos (z.B.: Cinema Dornbirn) TaSKino Feldkirch:  2.3. - 5.3. LeinwandLounge Bludenz: 13.5.

Trailer zu "Sorry We Missed You"



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