In meisterhafter Rückblendentechnik erzählt Wang Xiaoshuai mit epischem Atem in drei Stunden die sich von den 1980er Jahren bis zur Gegenwart spannende Geschichte einer chinesischen Familie. Souverän verknüpft er dabei Privates mit dem gesellschaftlichen Wandel und rechnet mit der kommunistischer Repression und Einkind-Ehe ebenso ab wie mit dem Turbokapitalismus, der alles Alte hinwegfegt.
Während einige Kinder in der Distanz an einem Stausee spielen, bleiben zwei Jungs abseits auf einer Anhöhe. Doch der eine drängt den anderen mit ihm hinunter zum Wasser zu gehen. Nach einem Schnitt sieht man wieder aus der Distanz wie Erwachsene zum See rennen, offensichtlich einen Jungen bergen, der Vater ihn aufhebt und rennend ins Krankenhaus bringt. Dort kann aber nur noch der Tod festgestellt werden, während eine chinesische Version des schottischen Abschiedslieds „Auld Lang Syne“ ("Nehmt Abschied, Brüder!), das an Filme John Fords erinnert und sich leitmotivisch durch „So Long, My Son“ zieht, einsetzt.
Kern- und Angelpunkt des ganzen dreistündigen Films ist dieser Unfall. Wie dieser Verlust das ganze Leben von Yaojun (Wang Jingchun) und seiner Frau Liyun (Yong Mei) bestimmt, macht auch die Erzählstruktur bewusst, wenn in der Mitte dieses großen Melodrams nochmals der Unfall gezeigt wird, und am Ende aufgedeckt wird, was genau passiert ist.
Die Zeit ist für dieses Paar mit dem Tod ihres Sohnes förmlich stehengeblieben, nur warten alt zu werden ist ihnen geblieben, wie Liyun einmal feststellt. Einen anderen Jungen haben sie zwar adoptiert und ihn in die Rolle des Verstorbenen gedrängt, doch dieser inzwischen fast erwachsene Teenager macht - wohl auch als Protest gegen die Instrumentalisierung als Ersatzsohn - nur Probleme und kann den Verlust nicht vergessen machen.
In die Gegenwartshandlung, in der Yaojun und Liyun in einer chinesischen Küstenstadt, in die sie nach dem Unfall gezogen sind, eine schäbige Reparaturwerkstatt für Schiffsbauteile und Fischernetze betreiben, brechen so abrupt immer wieder Erinnerungen an die glückliche Zeit mit dem Sohn herein, die freilich auch untrennbar mit der chinesischen Gesellschaft der 1980er Jahre verknüpft ist.
Glücklich war man damals mit Verwandten und Freunden, auch wenn das private Glück trotz des Endes der Kulturrevolution nach Maos Tod durch politische Repression beeinträchtigt wurde. Ein Freund, der für westliche Mode und Musik schwämte und bei einer geheimen „Licht-aus-Party“ zu „Rivers of Babylon“ von Boney M. tanzte, wurde verhaftet und Liyun selbst wurde, als sie ein zweites Mal schwanger wurde, von ihrer Schwägerin und Parteifunktionärin gezwungen das Kind entsprechend der Ein-Kind-Politik abzutreiben.
Purer Hohn ist die daran anschließende öffentliche Auszeichnung des Paares als vorbildliche Vertreter dieser Politik, aber auch Proteste gegen die als nötige Reform verkauften Massenentlassungen in der Stahlindustrie, in der Yaojun arbeitete, werden nicht ausgespart.
Und gleichzeitig treibt Xiaoshuai auch die Gegenwartshandlung voran, wenn die Probleme mit dem Adoptivsohn eskalieren, die Ehe zu zerbrechen droht, das Paar im Finale aber doch auf Besuch in die alte Heimatstadt zurückkehrt, in der freilich nichts mehr ist wie früher. Bittere Kritik am Turbokapitalismus wird hier geübt, wenn Yaojun und Liyun bei der Fahrt durch die Stadt eine Shopping Mall passieren, vor der eine Mao-Statue steht und ihrem ärmlichen Leben der neue Reichtum von Yaojuns Bruder, der nun in der Immobilienbranche arbeitet, gegenübersteht.
In dessen Sohn, der einst Spielgefährte des verunfallten Jungen war und inzwischen Arzt ist, erkennen Yaojun und Liyun wohl auch, was aus ihrem Sohn hätte werden können. Doch bei aller Tristesse und Bitterkeit endet „So Long, My Son“ versöhnlich, wenn dem Gedenken an den toten Sohn auch wieder eine Geburt gegenübersteht.
Nicht nur vom Wandel Chinas in den letzten dreißig Jahren, sondern auch zeitlos und universell von Vergänglichkeit erzählt Xiaoshuai, wenn man diesem Paar, für dessen Verkörperung Wang Jingchun und Yong Mei bei der Berlinale zurecht als beste Schauspieler ausgezeichnet wurden, beim Altern zuschaut.
Bewundernswert hält der 53-jährige Regisseur dabei den Erzählfaden in der Hand, kontrolliert das Tempo genau, hält scheinbar mühelos den Spannungsbogen über die doch beträchtliche Länge aufrecht. Souverän wechselt er dabei Szenen, die in langen distanzierten und statischen Einstellungen, in denen die Protagonisten ihre Gefühle und Probleme artikulieren können, gefilmt sind, und solchen, in denen er eine unruhige und nah geführte Handkamera einsetzt, durch die der Zuschauer direkt ins Geschehen involviert wird.
Bestechend bettet Xiaoshuai aber auch die Handlung in die Zeit und den gesellschaftlichen Raum ein, wechselt zwischen Innenszenen im engen Wohnblock oder der heruntergekommenen Werkstatt und Totalen der Stadt und lässt mit schmutzigen Farben und detailreicher Ausstattung diese Zeit und Milieus lebendig werden und den Zuschauer diese Atmosphäre geradezu fühlen.
Die Meisterschaft des Films besteht in der leichthändigen Verknüpfung der formalen Mittel und inhaltlichen Ebenen. Nichts wirkt hier gezwungen, sondern unaufgeregt und ganz selbstverständlich werden das Private und das Politische miteinander verwoben. Das eine ist ohne das andere nicht denkbar, gegenseitig bedingen sich die Ebenen und erst ihre souveräne Verschmelzung sorgt dafür, dass „So Long, My Son“ sowohl als bewegende universelle Erzählung über die lebenslangen Folgen von Verlust und Schuld als auch als großes Panorama des Wandels Chinas in den letzten 30 Jahren funktioniert.
Läuft derzeit im Kinok St. Gallen und im Skino Schaan. - Österreichstart im Januar 2020
Trailer zu "So Long, my Son - Bis dann, mein Sohn"
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