Mit vier Jahren stand die 1979 geborene Kanadierin Sarah Polley erstmals vor der Kamera. Sie drehte mit Atom Egoyan, Isabel Coixet, Wim Wenders und David Cronenberg, ehe sie mit 28 Jahren auf den Regiestuhl wechselte. Mit "Away from Her" (2007), "Take This Waltz" (2011), "Stories We Tell" (2013) und "Women Talking – Die Aussprache" (2022) schuf Polley, der das Kinok St. Gallen im Mai eine Filmreihe widmet, in den letzten 15 Jahren ein schmales, aber eindrückliches Werk, das immer wieder um Erinnerung, Vergessen und Kommunikation kreist.
Zuerst räumt die Mittsechzigerin Fiona (Julie Andrews) die frisch gespülte Bratpfanne in den Kühlschrank, dann kann sie sich an das Wort "Wein" nicht mehr erinnern oder findet bei einem ihrer Langlaufausflüge nicht mehr den Weg nach Hause. Weil der zunehmende Verlust des Erinnerungsvermögens bald nicht mehr geleugnet und verdrängt werden kann, lässt Fiona sich selbst in eine Pflegeanstalt für Menschen mit Demenz einweisen.
Ungewöhnlich für eine 28-Jährige, widmete sich Sarah Polley in ihrem Regiedebüt "Away from Her" (2008) nicht ihrer Generation, sondern fokussierte auf einem seit 44 Jahren verheirateten Paar, dessen Beziehung durch die Erkrankung der Frau weniger zerbricht als vielmehr sich auflöst. Denn bald erkennt Fiona ihren Mann bei seinen Besuchen im Heim nicht mehr, beginnt aber eine Beziehung zu einem anderen Heiminsassen.
Wie Polley in den den Film eröffnenden und beschließenden Bildern von zwei Langlaufspuren, die parallel verlaufen, sich aber hin und wieder voneinander entfernen, eine prägnante Metapher für den gemeinsamen Lebensweg präsentiert, so visualisieren sorgfältig eingeschnittene grobkörnige und farblich verfremdete Jugendbilder, die so fragil und flüchtig wie die Erinnerungen sind, melancholisch die Vergänglichkeit.
Und im dominierenden Weiß des Schnees und des Vorspanns sowie in langsamen Überblendungen und Zeitlupeneinstellungen findet die Regisseurin auch immer wieder eine kongeniale und eindringliche formale Entsprechung zum Schleichenden der Krankheit und deren Folgen: Es gibt keine harten Brüche, sondern die Erinnerung verschwimmt und löst sich schließlich im Nichts auf, sodass nur eine weiße Fläche zurückbleibt.
Als die Kanadierin, die am 8. Januar 1979 als fünftes Kind eines Schauspieler-Ehepaares in Toronto geboren wurde, 2008 ihren ersten eigenen Film drehte, konnte sie schon auf eine 20-jährige Karriere als Schauspielerin zurückblicken. Entscheidend geprägt dürfte sie vor allem die Zusammenarbeit mit Atom Egoyan und Isabel Coixet haben. Denn nach einem Auftritt im Disney-Film "Wenn Träume wahr wären" (1985) und in Terry Gilliams "Die Abenteuer des Baron Münchhausen" (1988), gelang ihr mit Egoyans "Exotica" (1994) und vor allem mit "The Sweet Hereafter" (1997) der Durchbruch.
Eindrücklich spielte sie in letzterem eine 15-Jährige, die als einzige den Unfall eines Schulbusses überlebt hat und nun als wichtige Zeugin im Prozess gegen die Herstellerfirma des Busses aussagen soll. In komplexer Montage verschränkt Egoyan dabei mehrere Zeitebene und reflektiert nicht nur über Verlust und Leid, sondern auch über die Unsicherheit von Erinnerungen.
Gleichzeitig scheint Polley in ihren Filmrollen auch den Verlust der eigenen Mutter, die an Krebs starb, als sie elf Jahre alt war, zu verarbeiten. Wim Wenders lässt sie so in "Don´t Come Knocking" (2005) als Sky mit der Urne ihrer vor kurzem verstorbenen Mutter durch den amerikanischen Mittelwesten reisen und wie Polley selbst erst als Erwachsene ihren biologischen Vater finden. Aber auch in Isabel Coixets "My Life Without Me" (2003) konnte sie mit der Rolle einer todkranken 23-jährigen Ehefrau und Mutter, die ihre Krankheit verheimlicht und das Leben ihrer Familie für die Zeit nach ihrem Tod noch ordnen will, wohl Erfahrungen vom Verlust ihrer eigenen Mutter einbringen.
Mit dieser setzte sie sich auch in ihrem Dokumentarfilm "Stories We Tell" (2013) auseinander. Mit Interviews und teilweise auch fingierten Home-Movies spürt Polley darin dem Leben ihrer Eltern und damit auch ihren eigenen Wurzeln nach. Wie eine Detektivin dringt die Regisseurin immer tiefer in die Geschichte ihrer Eltern vor und erfährt dabei auch Überraschendes über sich selbst.
Im Privaten verhandelt "Stories We Tell" dabei mit der Erforschung familiärer Beziehungen und der individuellen Wurzeln Universelles und dokumentiert eindrücklich die Bedeutung des Erzählens als Möglichkeit Vergangenes gegenwärtig zu machen, deckt aber auch die Subjektivität der Wahrnehmung und das Trügerische der Erinnerungen auf.
Querverbindungen zu "Away from Her" stellen sich nicht nur mit der Thematisierung von Erinnerungen ein, sondern auch durch die Fokussierung auf ein Paar, bei dem die Frau sich von ihrem Partner zu entfernen beginnt. Dies verbindet "Stories We Tell" aber auch mit Polleys zweitem Spielfilm "Take This Waltz" (2011), in dem eine scheinbar glücklich verheiratete 28-Jährige durch die Begegnung mit einem Mann aus der Bahn geworfen und bald zwischen Ehemann und neuer Bekanntschaft zerrissen ist.
Von der Schauspielerei zog sich die Kanadierin schon 2010 völlig zurück. Mehrere Regie-Projekte wie "Little Women" oder die Verfilmung von John Greens "Looking for Alaska" scheiterten in der Folge aber an einer im Grunde leichten Gehirnerschütterung, die sie sich bei einem Unfall mit einem Feuerlöscher zuzog und die für anhaltende Konzentrationsstörungen sorgte. Erst neun Jahre nach "Stories We Tell" meldete sie sich so mit ihrer Verfilmung von Miriam Toews Roman "Women Talking – Die Aussprache" (2022) zurück, für den Polley den Oscar für das beste adaptierte Drehbuch gewann.
Stärker ausgeprägt als in ihren bisherigen Filmen ist in diesem Kammerspiel der feministische Akzent. Wieder geht es aber um Erinnerung, um Traumata und um das Aufarbeiten dieser Erfahrungen im Gespräch, bis schließlich eine Handlung folgt. Mag "Women Talking" dabei auch in einer mennonitischen Gemeinde und scheinbar in der Vergangenheit spielen, so ist der Film doch unübersehbar als Reflex auf die #meToo-Bewegung angelegt.
Wenn Polley acht Frauen in einer Scheune in dichtem Dialog beraten lässt, wie sie auf die Übergriffe ihrer gewalttätigen Ehemänner reagieren sollen, dann ist das eine zeitlose und universelle Abrechnung mit dem Patriarchat und eine entschiedene Aufforderung zu weiblicher Selbstermächtigung.
Zu hoffen bleibt freilich, dass die 44-Jährige, die 2022 in dem autobiographischen Buch "Run Towards the Danger: Confrontation with a Body of Memory" auch über ihre eigenen negativen Erlebnisse im Filmgeschäft und deren Auswirkungen bis in die Gegenwart berichtete, nach diesem starken Comeback ihre Karriere fortsetzt. Sicher ist das freilich nicht, erklärte sie doch vor kurzem in einem Interview, dass es ihr nichts ausmachen würde, nie wieder einen Film zu drehen.
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Trailer zu "Women Talking - Die Aussprache"
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