Reading Lolita in Tehran - Lolita lesen in Teheran
- Walter Gasperi

- 11. Juli
- 4 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 3. Nov.

Eine Exil-Iranerin kehrt während der Islamischen Revolution 1979 aus den USA in ihre Heimat zurück, um an der Universität von Teheran englische Literatur zu unterrichten, wird aber zunehmend mit der Unterdrückung der Frauen konfrontiert: Eran Riklis´ sorgfältige, aber auch kantenlose Verfilmung der Memoiren von Azar Nafisi lebt vor allem von seiner großartigen Hauptdarstellerin Golshifteh Farahani.
Der Israeli Eran Riklis verhandelte bislang in Filmen wie "The Syrian Bride" (2004), "The Lemon Tree" (2008) oder "Dancing Arabs" ("Mein Herz tanzt", 2014) anhand von privaten Geschichten die schwierigen Beziehungen zwischen Israelis und den Palästinensern bzw. Syrern. Mit seiner Verfilmung der 2003 erschienenen Memoiren "Reading Lolita in Tehran" der iranisch-us-amerikanischen Hochschulprofessorin und Schriftstellerin Azar Nafisi fokussiert er erstmals auf der iranischen Gesellschaft. Gemeinsam ist den Filmen aber der Blick auf den Zusammenhang von gesellschaftlichen Bedingungen und privatem Leben und wie in "The Lemon Tree" steht wiederum eine Frau im Zentrum, die sich nicht in die Verhältnisse fügt, sondern Widerstand leistet.
Schwarzweiße Fotos und Inserts informieren über die Islamische Revolution im Jahr 1979 und die Rückkehr zahlreicher Exil-Iraner. Auch Azar Nafisi (Golshifteh Farahani), die in den USA amerikanische und englische Literatur studierte, kehrt mit ihrem Mann voller Hoffnungen in ihre Heimat zurück. Doch diese Stimmung wird sofort gedämpft, wenn beim Landeanflug auf das Alkoholverbot im Iran hingewiesen wird und bei der Zollkontrolle Schikanen wegen eines Lippenstifts in der Handtasche und englischsprachiger Bücher wie Vladimir Nabokovs "Lolita", F. Scott Fitzgeralds "The Great Gatsby" und Henry James´ "Daisy Miller" im Koffer folgen.
Diese Bücher, die Nafisi mit ihren Student:innen mit Fokus auf den Frauenfiguren diskutiert, strukturieren auch "Reading Lolita in Tehran". Gegensätze prallen aufeinander, wenn sie im Hörsaal von "The Great Gatsby" schwärmt, während die männlichen Zuhörer Kritik an dem westlichen Roman üben. Diesen Kritikern gegenüber verteidigt sie das Werk in einem fingierten Prozess, doch aus dem Spiel wird Ernst, wenn die Hijab-Pflicht, der sich Nafisi zunächst widersetzt, die Frauen einschränkt und Proteste der Student:innen mit Knüppeln niedergeschlagen, die Aktivist:innen verhaftet und hingerichtet werden. - Als Peiniger treten dabei nicht nur Männer, sondern auch fanatische, ganz in Schwarz gekleidete Frauen auf.
Die Chronologie bricht Riklis auf, wenn er von 1980 ins Jahr 1995 und zur Besprechung von Nabokovs "Lolita" springt, zu der sich sechs Studentinnen in Nafisis Wohnung treffen, um dann in einem dritten Kapitel mit Henry James´ "Daisy Miller" ins Jahr 1988 zurückzukehren.
Mit diesem Rückblick kann Riklis den Iran-Irakkrieg (1980 – 1988) und die damit verbundene Radikalisierung der Männer ins Spiel bringen, die enttäuscht erkennen mussten, dass ihr Kriegseinsatz für die Islamische Revolution in der Hauptstadt keine Wertschätzung fand.
Gleichzeitig verweist die Auswahl der besprochenen literarischen Werke auch immer auf die Situation der Frauen im Iran. Denn wie bei Nabokov die zwölfjährige Lolita von ihrem Stiefvater ausgebeutet wird und wie die Protagonistinnen von Henry James´ "Daisy Miller" und Jane Austens "Pride and Prejudice" durch gesellschaftliche Zwänge in einer männlich dominierten Gesellschaft eingeengt werden, so werden auch die iranischen Frauen unterdrückt.
Sichtbar wird das nicht nur an Nafisis Rückzug ins Privatleben, sondern auch an ihren Studentinnen. Da nimmt eine die Unterdrückung durch ihren Mann hin, da sie durch eine Scheidung den Kontakt zu ihrem Kind verlieren würde, eine andere wird wegen eines vorehelichen sexuellen Kontakts verhaftet und ausgepeitscht und eine dritte zeigt sich als gläubige Muslima, die schon vor der Hijab-Pflicht ein Kopftuch getragen hat, inzwischen aber ihre Illusionen verloren hat.
Wie freilich die literarische Ebene mehr angerissen als wirklich entwickelt wird, so bleiben auch diese Frauen Nebenfiguren. Der Fokus liegt ganz auf Nafisi, die von der seit 2009 in Frankreich lebenden Golshifteh Farahani gespielt wird. Bewegend vermittelt sie die zunehmende Verbitterung der Uni-Professorin und ihr wachsender Wunsch nach neuerlicher Emigration.
Wie befreit das Leben sein könnte, macht dabei eindrücklich eine Traumsequenz sichtbar, in der Nafisi, auf einer Parkbank sitzend, die Straße belebt, Frauen ohne Kopftuch vor einem Café sitzen und lachende junge Menschen sich unterhalten sieht, bis dieser imaginäre Glücksmoment wieder durch die triste Realität abrupt abgebrochen wird.
Abgesehen von dieser Szene hat Riklis Nafisis Memoiren zwar mit Übersicht, aber auch sehr konventionell adaptiert. Zweifellos sorgfältig ausgestattet ist "Reading Lolita in Tehran" und jede Einstellung ist überlegt gewählt, aber die Inszenierung bleibt auch überraschungsfrei und vertraut ganz auf das großartige Ensemble.
Überzeugungskraft gewinnt dieses Drama dabei auch dadurch, dass Riklis die Rollen mit im Exil lebenden Iraner:innen besetzte, die auch auf eigene Erfahrungen zurückgreifen konnten. Damit verleihen sie dem Film bewegende Kraft und sie erinnern im historischen Geschehen auch an die ungebrochene Unterdrückung der Frauen im Iran. Gleichzeitig feiern Riklis und Nafisi aber auch die Kraft der Literatur, die nicht nur in tristen Zeit Glück bescheren, sondern mit ihren Figuren auch zu Widerständigkeit und zu einem Ausbruch aus den Verhältnissen anregen kann.
Geschickt baut Riklis dabei auch Nafisis Memoiren ein, wenn diese im Epilog auf ihrem Schreibtisch liegen und quasi die Reihe der Klassiker fortsetzen. Aber auch einen bitteren Moment enthält dieses Finale, denn während der Blick in Nafisis Wohnung in Teheran aus dem Arbeitszimmer auf die schneebedeckten Berge fiel, fällt er im Exil in Washington auf eine hässliche Hochhaussiedlung: Das Exil mag zwar Freiheit bringen, aber es bleibt auch der Schmerz über den Verlust der Heimat.
Reading Lolita in Tehran - Lolita lesen in Teheran
Israel / Italien 2024
Regie: Eran Riklis
mit: Golshifteh Farahani, Zar Amir, Mina Kavani, Bahar Beihaghi, Isabella Nefar, Raha Rahbari
Länge: 108 min.
Läuft derzeit in den Schweizer Kinos, z.B. im Kinok St. Gallen und im Skino Schaan.
Trailer zu "Reading Lolita in Tehran"




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