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  • AutorenbildWalter Gasperi

Poor Things

Eine Emanzipationsgeschichte wie es noch keine gab: Yorgos Lanthimos inszeniert die Entwicklung einer jungen Frau als bildgewaltigen, immer wieder überraschenden, zwischen Realismus und grandioser Künstlichkeit pendelnden und von trockenem schwarzem Humor durchzogenen grandiosen Trip. – Überragend in der Hauptrolle: Emma Stone.


Schon die ersten Einstellungen, in denen eine schwarzhaarige Frau in langem samtblauem Kleid vor dunklem Himmel von einer Brücke in die Themse springt, stimmen auf ein außergewöhnliches Filmerlebnis ein: Auf Anhieb nehmen diese Bilder und die ungewöhnliche Musik von Jerskin Fendrix, der immer wieder mit metallenen Tönen und Dissonanzen arbeitet, gefangen.


Mit einem Schnitt wechselt der Grieche Yorgos Lanthimos, der mit "Poor Things" nach der eisigen Aktualisierung des Iphigenie-Mythos mit "The Killing of a Sacred Deer" (2017) und der brillanten Satire "The Favourite" (2018), hier sein Opus magnum vorlegt, von Farbe zu Schwarzweiß und zum Mediziner Dr. Godwin "God" Baxter (Willem Dafoe). Der im Gesicht durch Experimente seines Vaters, der den Sohn als Versuchsobjekt benutzte, aufgrund von Operationsnarben arg entstellte Akademiker hält an der Universität eine Anatomie-Vorlesung, bei der er von seinen Studenten teils verlacht wird. Dennoch holt er sich den jungen Max McCandles (Ramy Yousef) als Gehilfen in sein Haus.


Max soll genau das Verhalten und die Entwicklung der jungen Bella Baxter (Emma Stone) dokumentieren. Diese ist zwar bildschön, hat aber den Intellekt eines Kleinkinds. Überraschend ist dies nicht, denn Baxter hat die hochschwangere Selbstmörderin der Auftaktszene an Land gezogen, ihr Kind mittels Kaiserschnitts zur Welt gebracht und dessen Gehirn der halbtoten Mutter eingepflanzt und mit Stromstößen das neue Geschöpf zum Leben erweckt.


Eine Variation von Mary Shelleys Roman "Frankenstein" schuf so der schottische Autor Alasdair Gray mit seinem 1992 erschienenen schwarzhumorigen Roman "Poor Things" (deutsch: "Arme Dinger", 2000), der dem Film zugrunde liegt. Im Gegensatz zum Roman Shelleys steht aber nicht der Wissenschaftler, sondern dessen weibliches Geschöpf im Mittelpunkt von Lanthimos´ Film, der auf den ersten Blick im viktorianischen England des späten 19. Jahrhunderts spielt.


Nur auf den ersten Blick in dieser Zeit spielt "Poor Things", weil einerseits Kleidung und Ausstattung in diese Zeit versetzen, andererseits aber später futuristische Elemente wie Seilbahnen oder ein mächtiger Ozeandampfer eine ebenso grandiose wie künstliche Steampunk-Atmosphäre erzeugen. Doch nicht nur die Irrealität dieser an die Filme Federico Fellinis erinnernden überbordenden Kulissenwelt, die hier die Production Designer James Price and Shona Heath geschaffen haben, sorgt für ebenso aufregende wie verstörende Kinomomente. Gesteigert wird dieses Gefühl nämlich noch durch extreme Weitwinkelaufnahmen und den Einsatz von Fischaugenobjektiven, mit denen Kameramann Robby Ryan, der auf 35mm drehte, die Räume verzerrt.


Baxters bedingungsloser Forscherwille wird im Haus sichtbar, wenn im Garten ein Hundekörper mit einem Gänsekopf ebenso wie eine Henne mit einem Mopskopf herumrennt. Diesem Godwin als Gott steht mit Bella die Schöne gegenüber. Jedes Verlassen des Hauses verbietet er ihr, doch zunehmend größer wird ihr Verlangen die Welt kennenzulernen.


Großartig spielt Emma Stone diese Mischung aus schöner Frau und Kleinkind, die zunächst nur ungelenk durchs Haus stakst, kaum ganze Sätze sprechen kann, aber zunehmend nicht nur sicherer im Gehen und Sprechen wird, sondern auch Wünsche entwickelt. Zögerlich begibt sich Baxter so zunächst mit ihr auf eine Fahrt in die Stadt, lässt dann durch den windigen Anwalt Duncan Wedderburn (Mark Ruffalo) einen Ehevertrag für Bella und Max ausarbeiten.


Doch der von Mark Ruffalo herrlich schmierig gespielte Wedderburn macht sich selbst an Bella heran, die inzwischen durch Selbstbefriedigung die Freuden der sexuellen Lust entdeckt hat, und begibt sich mit ihr auf eine Schiffsreise durch mehrere Metropolen Europas.


Von Schwarzweiß wechselt "Poor Things" damit wieder zu Farbe und Lanthimos schwelgt immer wieder in in Goldtöne getauchten Bildern und bedrohlich dunklen Himmelsstimmungen und setzt seine Bella in atemberaubenden Kostümen – geschaffen von Holly Waddington - in Szene.


Die durch Kapitelüberschriften zu den einzelnen Städten gegliederte Reise entwickelt sich dabei zu einer fulminanten Entwicklungsgeschichte, bei der sich das Geschöpf Bella zunehmend aus der Abhängigkeit von Wedderburn befreit und sich zum selbstständig denkenden und handelnden Menschen entwickelt.


Ist zunächst Sex ihr einziges Interesse – und Lanthimos spart nicht mit ausführlichen Sexszenen und unterschiedlichsten Stellungen –, so entdeckt sie bald auch kulinarische Genüsse oder in einer grandiosen Szene die Freude an Musik und Tanz. Indem sie immer alles offen ausspricht, was sie denkt, stellt sie – und damit auch der Film - aber auch die heuchlerische vornehme Gesellschaft bloß.


Bald entdeckt sie auch die Lust am Lesen und entwickelt sich zum politisch denkenden Menschen mit einem starken sozialen Gewissen. Bissige Kritik am gegenwärtigen Nord-Süd-Gefälle wird geübt, wenn Bella in Alexandria Mitgefühl für die notleidende Bevölkerung zeigt, die europäische Oberschicht aber gleichgültig darauf reagiert. Aber auch eine Lektion in Kapitalismus sowie Sozialismus erteilt "Poor Things" in den Pariser Szenen und schließlich wird auch noch scharf mit männlichem Militarismus, Macht- und Besitzdenken abgerechnet und mit einem letzten ebenso bösen wie originellen Einfall bestraft.


Durchgängig zieht sich dabei durch den Film auch das Verhältnis von Rationalität, gesellschaftlichen Konventionen und Emotionen. Hinreißend stellt hier Bella mit ihrem rein vernunftorientierten Handeln und Reden ihre Gegenüber immer wieder bloß, kennt aber auch keine Liebe, da sich diese nicht mit empirischen Methoden erklären lässt.


Ein wahrhaft großer Wurf ist dieser Film, passt in keine Schublade, wagt immer wieder einzigartige und absolut neuartige und überraschende Bilder und verliert dabei doch die Geschichte um weibliche Selbstbefreiung einerseits und die Fragen nach Missständen in der heutigen Welt und den Möglichkeiten einer Veränderung des Menschen und der Gesellschaft zum Besseren nie aus dem Auge.


So bietet Lanthimos einerseits visuell grandioses und mit einem großartigen Soundtrack unterlegtes sehr sinnliches Kino, andererseits kommt aber auch mit der Gesellschaftskritik in dieser von knochentrockenem schwarzem Humor durchzogenen, überreichen Satire das Denken nicht zu kurz.

 

 

Poor Things

USA / Irland / Großbritannien 2023

Regie: Yorgos Lanthimos

mit: Emma Stone, Mark Ruffalo, Willem Dafoe, Margaret Qualley, Christopher Abbott, Jerrod Carmichael

Länge: 141 min.



Läuft derzeit in den Kinos.


Trailer zu "Poor Things"




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