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Petrov´s Flu

Autorenbild: Walter GasperiWalter Gasperi

Der im deutschen Exil lebende Russe Kirill Serebrennikov entfesselt einen finsteren Trip in die postsowjetische Befindlichkeit: Mehr Stimmungsbild als Handlung, bei der Realität und Fiebertraum verschwimmen – düster, hoffnungslos und anstrengend, aber auch aufregend.


Im Fadenkreuz der russischen Polizei stand Kirill Serebrennikov in den letzten Jahren. 2017 wurde der vielseitige Künstler, der neben seiner Filmarbeit auch Theaterstücke und Opern inszeniert und 2012 zum künstlerischen Leiter des Moskauer Avantgardetheaters Gogol-Zentrum ernannt worden war, wegen angeblicher Unterschlagung staatlicher Gelder verhaftet. Er wurde unter Hausarrest gestellt, konnte aber dennoch weiter arbeiten. Beim Prozess 2020 forderte die Staatsanwaltschaft sechs Jahre Lagerhaft, Serebrennikov wurde schuldig gesprochen und zu dreijähriger Bewährungsstrafe mit Ausreiseverbot verurteilt.


Auch im Westen machte sich der 53-jährige Kreml-Kritiker einen Namen. Vom Gefängnis oder Hausarrest aus, erarbeitete er mittels Video-Schaltungen so die Inszenierungen von Mozarts Oper "Cosi fan tutte" 2018 am Zürcher Schauspielhaus oder "Parsifal" 2021 an der Wiener Staatsoper. Im Januar 2022 traf Serebrennikov überraschend in Hamburg ein, inszenierte am Thalia Theater Tschechows "Der schwarze Mönch", reiste dann wieder nach Russland, kehrte aber im April nach Deutschland zurück.


Nachdem er in seinem Film "Leto" vor dreieinhalb Jahren ein mitreißendes Bild der Leningrader Rockszene der frühen 1980er Jahre zeichnete, lässt er das Publikum nun in "Petrov´s Flu" ins postkommunistische Russland eintauchen.


Um die Weihnachtszeit spielt diese Verfilmung von Alexey Salnikovs Roman "The Petrovs In and Around the Flu" zwar, doch Weihnachtsstimmung kommt hier nie auf. In giftiges Grün ist nicht nur die in einer überfüllten Straßenbahn spielende erste Szene getaucht. In langer Plansequenz deckt Serebrennikov nicht nur den Rassismus eines Fahrgastes auf, sondern auch den Sexismus eines anderen. Schließlich kommt der stets hustende Petrov (Semyon Serzin) ins Bild.


Plötzlich wird er vom russischen Geheimdienst FSB aufgerufen und aufgefordert die Straßenbahn zu verlassen. Auf den Straßen soll er an einem Erschießungskommando teilnehmen, bei dem vornehm gekleidete Mitglieder der Oberschicht hingerichtet werden. – Doch ist das nun ein Traum des fiebernden Petrov oder ist das Realität.


Immer wieder verschwimmen die Grenzen, entpuppt sich eine scheinbar reale Szene als Vorstellung. Sogar ein UFO kommt dabei ins Spiel und ein Gebiss, das ein verprügelter Mann in der Straßenbahn verloren hat, wird mehrfach zu Petrov sprechen.


Abrupt wechseln auch immer wieder Szenen. Bald verschwindet Petrov aus dem Film und seine geschiedene Frau (Chulpan Khamatova ) rückt ins Zentrum, die als Bibliothekarin eine Lesung organisiert. Bald erweist sie sich aber auch als famose Martial-Arts-Kämpferin und brutale Killerin, während Petrov einem erfolglosen Schriftsteller beim Selbstmord helfen soll.


Zusammengeführt werden Mann und Frau in der Wohnung, in der die Frau mit dem gemeinsamen Sohn wohnt. Wie Petrov leidet auch dieser an heftigem Fieber, möchte aber dennoch bei einem Silvesterstück mitspielen.


Breitwandbilder wechseln mit in engem Format gehaltenen, subjektiven Handykamera-Aufnahmen zu diesem Stück, schließlich wechselt der Film zu Schwarzweiß, wenn die Geschichte einer jungen Schauspielerin erzählt wird.


Wie diese Welt in Auflösung begriffen ist und dem Untergang geweiht scheint, so zertrümmert Serebrennikov jede lineare und klar strukturierte Handlung und evoziert mit grünstichigen Bildern, desolaten Settings sowie der Mischung aus Punkrock und ruhiger Musik eine Stimmung des Verfalls und des Untergangs. Nie sieht man hier die Sonne, wenn überhaupt Himmel sichtbar wird, ist dieser wolkenverhangen.

Ob Straßenbahn, enge Wohnung, Landstraße oder Saal für das Silvesterstück – Jeder Raum wirkt abweisend und schmuddelig und explizit auf eine Unterwelt verweist ein Verlag mit Namen Hades. – Die einzige Option scheint Flucht und so fordern auch Graffitis an den Wänden immer wieder auf abzuhauen.


Die Handlung zu ergründen sollte man hier gar nicht versuchen, sondern sich vielmehr auf die düstere Stimmung, die dieser Film beschwört einlassen. Offen bleibt dabei freilich die Frage, inwieweit Serebrennikov in dieser Schilderung einer postkommunistischen Stadt der 1990er Jahre die Zustände und die Befindlichkeit der Russ*innen im Land Putins spiegeln will. Sicher ist aber, dass der Machthaber im Kreml mit diesem Film keine Freude hat: Denn egal, ob man "Petrov´s Flu" historisch liest oder aktuell interpretiert: ein düstereres Bild von Russland als das, das hier gezeichnet wird, kann man sich nicht vorstellen.


Petrov´s Flu Russland / Frankreich / Deutschland / Schweiz 2021 Regie: Kirill Serebrennikov mit: Semyon Serzin, Chulpan Khamatova, Vladislav Semiletkov, Yuliya Peresild, Yuri Kolokolnikov, Yuriy Borisov Länge: 146 min.


Derzeit in den Schweizer Kinos, z.B. im Kinok St. Gallen


Trailer zu "Petrov´s Flu"



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