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  • AutorenbildWalter Gasperi

Notturno


Drei Jahre streifte Gianfranco Rosi mit der Kamera durch das Grenzgebiet von Syrien, Irak, Libanon und Kurdistan. Auf Fakten verzichtet der Italiener, hält vielmehr unaufgeregt Begegnungen mit Menschen fest, in denen immer wieder Traumatisierung und Schmerz durch die jahrelangen kriegerischen Auseinandersetzungen und den IS-Terror sicht- und spürbar wird.


Mit dem Goldenen Löwen von Venedig 2013 für "Sacro Gra", in dem das Leben entlang der Ringautobahn um Rom mit der Kamera eingefangen wird, und dem Goldenen Bären von Berlin 2016 für "Fuocoammare – Seefeuer", in dem der Alltag auf der Flüchtlingsinsel Lampedusa geschildert wird, hat sich der 1964 geborene Italiener Gianfranco Rosi zu einem der renommiertesten Dokumentarfilmer der Gegenwart entwickelt.


Rosi will dabei kein Infotainment bieten, verzichtet auf Hintergrundinformationen und Off-Kommentar und beschränkt sich in klassischer Direct Cinema-Manier auf die unaufgeregte, aber genaue Beobachtung. In langen, ruhigen Totalen lässt er seinen Protagonist*innen immer wieder Zeit ihre Befindlichkeit zu vermitteln und dem Publikum Zeit sich auf diese Menschen einzulassen.


Von der Flüchtlingssituation auf der Mittelmeerinsel Lampedusa hat ihn so der Weg über Begegnungen mit Flüchtlingen während der Dreharbeiten zu "Seefeuer" ins Grenzgebiet von Syrien, Irak, Libanon und Kurdistan geführt. Nur am Beginn informieren Inserts über die Neuordnung dieser Region durch die westlichen Großmächte nach Zerfall des Osmanischen Reichs nach dem Ersten Weltkrieg. Die Inserts erinnern auch daran, dass damit aber kein Friede einkehrte, sondern Gewaltherrscher, militärische Einmischung von außen und Terrorismus immer wieder Leid über die Zivilbevölkerung brachten.


Doch Rosi zeigt keine Gefechtsszenen, nur in der Ferne hört man immer wieder MG-Feuer. Ausgesprochene Ruhe und Stille kennzeichnet davon abgesehen die Bilder. Auf Musik verzichtet Rosi, auch geredet wird über weite Strecken wenig. Er beschränkt sich darauf Soldaten beim Training, einen jungen Mann, der zunächst mit dem Motorrad unterwegs ist, dann ein Kanu besteigt und im sumpfigen Schilfgebiet auf die Jagd geht, oder einen jungen Fischer im Haus mit seiner Familie oder beim Fischfang zu begleiten.


Die Schrecken des Krieges und des Terrors schleichen sich langsam ein, wenn Frauen in einem halbzerstörten Gefängnis klagen, dass hier ihre Söhne getötet wurden, wenn ein Arzt in einer Psychiatrie mit Patient*innen ein Stück über Heimat probt, in dem die Laienschauspieler*innen ihre traumatischen Erfahrungen verarbeiten, oder eine Lehrerin geduldig Kindern zuhört, die über ihre schrecklichen Erfahrungen mit dem IS-Terror berichten. Ein erschütternder Kontrast stellt sich dabei ein, wenn Kinderzeichnungen Mord, Folter und Verstümmelungen drastisch visualisieren.


Weder geographisch noch zeitlich verankert Rosi seinen Dokumentarfilm genauer, reiht vielmehr Szenen aneinander, schweift von einem Protagonisten zum nächsten. Der Titel "Notturno" weist dabei einerseits ganz konkret auf die zahlreichen Nachtaufnahmen hin, die teilweise nur vom Feuer der Bohrtürme erhellt sind, kann andererseits aber auch metaphorisch als Verweis auf eine dunkle Welt gelesen werden. Auch bei Tag gibt es in diesem Film keinen Sonnenschein, sondern immer evoziert ein wolkenverhangener Himmel eine düstere Stimmung.


Namenlos bleiben die Protagonist*innen, doch nahe geht einem ihr Schicksal und berührt durch die insistierende Beobachtung. Fern ist hier das Gefühl, dass Rosi diese Menschen voyeuristisch ausbeutet, denn er lässt ihnen durch distanzierende Totalen immer viel Raum, vereinnahmt sie nie. Bestechend ausgeleuchtet und kadriert sind die Bilder, kein Schnellschuss ist dieser Film, doch nie lenkt diese ästhetische Brillanz vom humanistischen Impetus Rosis ab.


Bewegend erinnert er nämlich im Blick auf den unspektakulären Alltag und auf diese einfachen Menschen, die in den Medien kaum vorkommen und denen dieser Film ein Denkmal setzt, dass die Opfer von Krieg und Terror eine Zivilbevölkerung ist, die mit den Machtspielen und Kämpfen unterschiedlicher ideologischer Gruppierungen nichts zu tun hat.


Läuft derzeit in den Schweizer Kinos, z.B. im Kinok St. Gallen


Trailer zu "Notturno"


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