
Ridley Scott zeichnet in zweieinhalb Stunden das Leben des französischen Diktators, Kaisers und Generals von der Französischen Revolution bis zu seinem Tod auf der Atlantikinsel St. Helena nach: Ein Schnelldurchlauf ohne Zuspitzung und Verdichtung, bei dem die militärischen Ereignisse immer wieder von der Beziehung des kleinen Korsen zu seiner Frau Joséphine de Beauharnais kontrastiert werden.
Fünfeinhalb Stunden nahm sich Abel Gance in seinem legendären Stummfilm "Napoleon" (1927) Zeit, um von der Jugend des berühmten Franzosen bis zu dessen Aufbruch zum Italienfeldzug 1796 zu erzählen. Ridley Scott bringt nun nahezu dessen gesamtes Leben in weniger als der halben Zeit unter.
Nicht müde wird der 86-jährige Brite zwar zu erklären, dass es auch einen über vierstündigen Director´s Cut gebe, doch ob diese Fassung, die dann wohl beim produzierenden Apple TV+ zum Streaming angeboten wird, die Schwächen der Kinofassung beseitigt, darf bezweifelt werden.
Etwas weniger kurzatmig als dieser fragmentarische Bilderbogen wird die längere Fassung sein, über das Fehlen einer echten Dramaturgie wird aber auch sie nicht hinwegtäuschen können. Denn das Drehbuch von Daniel Scarpa ist kaum mehr als ein Gerüst, das einzelne Szenen aneinanderreiht, aber nie irgendein Ereignis oder eine Figur detaillierter ausarbeitet oder verdichtet.
Von der Hinrichtung Marie Antoinettes (16.10.1793) über die Eroberung von Toulon, den Sturz der Schreckensherrschaft Robespierres, den Ägyptenfeldzug und die Machtergreifung bis zur Kaiserkrönung, der Schlacht von Austerlitz, dem Russlandfeldzug und der Niederlage von Waterloo spannt Scott den Bogen. Die Entwicklung zu diesen Ereignissen wird weitgehend ausgespart, eingeleitet mit Inserts werden sie zusammenhanglos auf die Leinwand geknallt.
Spektakuläre Schlachtenbilder gelingen Scott und seinem Kameramann Dariusz Wolski dabei zweifellos, wenn die Kanonenkugeln einschlagen oder die Soldaten der Dreikaiser-Armee bei Austerlitz im brechenden Eis eines Sees im eisigen Wasser versinken. Offen bleibt bei diesen Massenszenen freilich, inwieweit hier mit realen Kulissen und Statisten gearbeitet wurde und inwieweit diese Bilder Ergebnis einer digitalen Bearbeitung sind.
Spannung allerdings will kaum aufkommen, denn jede Identifikationsfigur fehlt und wie ein Schachspieler lenkt der französische General mit seinen Befehlen seine Armee. Ganz auf ihn fokussiert Scott, keine Figur gewinnt neben dem von Joaquin Phoenix stark, aber unergründlich gespielten Kaiser Profil.
Schon fast zur Komödie wird "Napoleon" dabei in der Art wie Scott die politisch-militärischen Ereignisse mit der Liebe des Protagonisten zu Joséphine de Beauharnais (Vanessa Kirby) verknüpft. Obsessiv verfallen scheint er ihr, lässt überstürzt seine Truppen in Ägypten zurück, als er von ihren Affären erfährt und will unbedingt einen Erben mit ihr. Statt emotionale Tiefe zu entwickeln, verkommt diese Ehegeschichte aber zu einem wenig glaubwürdigen Schmierentheater.
Da mag Joaquin Phoenix noch so ernst blicken oder auch angesichts der Untreue Joséphines in Tränen ausbrechen, so kommt man dem Kaiser der Franzosen letztlich doch nicht nahe. In der Kurzatmigkeit des Films werden weder seine Rücksichtslosigkeit noch seine Machtgier spürbar und auch seine Liebe zu Joséphine bleibt mehr Behauptung als wirklich spürbar und nachvollziehbar zu werden.
Wirklich erfahrbar wird sein Charisma einzig nach seiner Rückkehr aus der Verbannung auf Elba, als französische Truppen schon auf ihn anlegen, er sie aber allein mit seinen Worten und seiner Präsenz auf seine Seite zieht. Nur dieser Moment entwickelt echte Spannung, weil Scott sich hier Zeit lässt, die Kontrahenten einander gegenüberzustellen und die Szene langsam bis zum Kipppunkt zu steigern.
Etwas seltsam ist aber auch, dass Napoleon mit Joaquin Phoenix mit einem Schauspieler besetzt wurde, der mit seinen 49 Jahren noch drei Jahre älter ist, als es Napoleon bei der Schlacht bei Waterloo war, und andererseits Joséphine de Beauharnais, die sechs Jahre älter als Napoleon war, von der erst 35jährigen Vanessa Kirby gespielt wird.
So simpel das Drehbuch gestrickt ist, so einfallslos ist bei aller Opulenz auch die Inszenierung. Gleichförmig reiht Scott Szene an Szene und will wohl mit dem Wechsel zwischen in kaltes Blau-Grau und in warmes Goldbraun und Gelb getauchten, von Kerzenlicht erhellten Innenszenen oder Außenszenen bei Toulon und in Ägypten für Abwechslung sorgen. Aber diese Farb- und Lichtdramaturgie, zu der später auch von Grüntönen bestimmte Landschaftsszenen sowie die Schlacht von Waterloo kommen, wirkt auf Dauer so schematisch, dass sie nur noch nervt.
Hoffnungslos übernommen haben sich Scott und Drehbuchautor Scarpa mit diesem Film. Wo Fokussierung auf wenige Momente und Figuren für Dichte und Spannung sorgen hätten können, dominiert hier oberflächliches Abhaken von Situationen. Ganz anders als beispielsweise in "The Last Duel", in dem Scott in eine kleine historische Geschichte packend aktuelle Bezüge verpackte, oder in "Gladiator", in dem er mit einer simplen Rachegeschichte ebenso Spannung aufbaute wie im klaustrophobischen Raumschiff im Science-Fiction-Film "Alien", bleiben hier am Ende nur ein hohler Bilderbogen und ein paar dürre – großteils schon bekannte, teilweise aber auch verfälschte – Fakten.
Gerade das Scheitern Scotts wirft freilich wieder einmal die Frage auf, was wohl Stanley Kubrick, der nach "2001 (1968) jahrelang akribisch einen Film über Napoleon vorbereitet hatte, aus diesem Stoff gemacht hätte. Nur zahllose Karteikarten, Drehbuchentwürfe, Kostümstudien und Fotografien der geplanten Drehorte gibt es von diesem Projekt, das aufgrund fehlender Produzenten nie realisiert wurde. Dem Vernehmen nach soll Steven Spielberg jetzt daraus aber eine siebenteilige Mini-Serie für HBO machen. Gespannt sein darf man, was dabei herauskommt.
Napoleon USA / Großbritannien 2023 Regie: Ridley Scott mit: Joaquin Phoenix, Vanessa Kirby, Tahar Rahim, Matthew Needham, Édouard Philipponna, Ludivine Sagnier, Ben Miles, Rupert Everett Länge: 158 min.
Läuft derzeit in den Kinos
Trailer zu "Napoleon"
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