Miséricorde – Misericordia
- Walter Gasperi
- vor 12 Minuten
- 4 Min. Lesezeit

Ein Mann kehrt nach langer Abwesenheit in sein Heimatdorf zurück und löst bei seinen einstigen Bekannten Feindseligkeiten ebenso wie Begehren aus: Vor prächtiger Herbstkulisse entwickelt Alain Guiraudie in nüchterner, aber konzentrierter Inszenierung einen starken Mix aus Drama, Krimi und Komödie, der gerade durch den Verzicht auf Erklärungen haften bleibt und nachwirkt.
Vor zwölf Jahren machte Alain Guiraudie mit "L’inconnu du lac" ("Der Fremde am See") auf sich aufmerksam. Ebenso rätselhaft wie faszinierend war dieser Film über homosexuelles Begehren und auch in "Miséricorde", für den Guiraudie ein Kapitel seines eigenen Romans "Rabalaire" als Vorlage diente, entwickelt der Franzose ein dichtes Netz an Begehren und Rivalitäten.
Der Einstieg gibt schon die Erzählweise vor, wenn eine lange Fahrt auf einer wenig befahrenen Landstraße zu dem im Südosten Frankreichs gelegenen ursprünglichen Dorf Saint-Martial führt. Wie hier Guiraudie fast bis zur Ankunft einen Blick auf den 31-jährigen Fahrer Jérémie (Félix Kysyl) ausspart und stattdessen minutenlang immer nur frontal auf die Straße und die in Gelb- und Brauntönen leuchtende Herbstlandschaft fokussiert, so wird auch im Folgenden auf ausführliche Erklärungen verzichtet.
So erfährt man zwar, dass der Bäcker Jérémie zum Begräbnis seines einstigen Lehrmeisters von Toulouse ins Dorf zurückkehrte, doch nicht weiter ausgeführt wird, in welcher Beziehung er darüber hinaus zum Verstorbenen stand. Begehrlich betrachtet er nämlich immer wieder ein Foto des Bäckers, das ihn in Badehose und mit nacktem Oberkörper zeigt, und bald bittet er die Witwe (Catherine Frot), bei der er Unterkunft findet, auch um die Kleidung des Toten.
Offen lässt Guiraudie, ob Bäcker und Lehrling ein Liebespaar waren, und gerade diese Offenheit macht "Miséricorde" faszinierend, zwingt sie doch die Zuschauer:innen, sich selbst Gedanken zu machen. Offen bleibt auch, was Jérémie im Dorf eigentlich will. Denn will er zunächst nach dem Begräbnis wieder abreisen, so lässt er sich von der Witwe zunächst zu einer Übernachtung überreden, beschließt dann aber mehrere Tage zu bleiben.
Wie die Fremden in den Filmen Joseph Loseys oder der Gast in Pasolinis "Teorema" bringt auch Jérémie mit seiner Anwesenheit bei seinen einstigen Bekannten und Freunden etwas in Bewegung. Irritierend ist aber auch, wie ausgestorben das Dorf wirkt. Mit dem Hinweis auf Schließung der Bäckerei und das Café wird zwar auch die Thematik der sterbenden Dörfer angeschnitten, doch dass man kaum einmal einen Menschen auf den Gassen sieht, ist schon höchst seltsam.
Nur einmal beobachtet ein Mann Jérémie und im herbstlichen Wald, den Kamerafrau Claire Mathon immer wieder in leuchtenden Bildern einfängt, sieht man einmal Pilzsucher:innen im Hintergrund. Davon abgesehen konzentriert sich Guiraudie aber ganz auf den Fremden, die Witwe des Bäckers, dessen Sohn Vincent (Jean-Baptiste Durand), sowie am Rande dessen Frau und Kind, den gemeinsamen Jugendfreund Walter (David Ayala) und den Priester (Jacques Develay), der sukzessive an Gewicht gewinnt.
In dieser minimalistischen Anlage kann Guiraudie intensiv das Gefüge der sich verändernden Gefühle und Beziehungen durchleuchten. Denn während sich die Witwe liebevoll um Jérémie kümmert und sich über seinen Aufenthalt freut, reagiert ihr Sohn Vincent zunehmend abweisend und aggressiv. Hat eine erste physische Auseinandersetzung zwischen Jérémie und Vincent so noch spielerischen Charakter und scheint sich hinter den Schlägen auch ein Begehren zu verstecken, so werden diese Kämpfe zunehmend heftiger.
Von diesem Spannungsfeld von Begehren und Aggression ist aber auch die Beziehung zu Walter, der außerhalb des Dorfes einen Bauernhof führt, geprägt. Denn als sich Jérémie diesem nur mit Unterhose und Unterhemd bekleidet zeigt, vertreibt Walter ihn zwar vom Hof, doch gleichzeitig scheint er damit nur sein uneingestandenes Begehren zu verdrängen und zu unterdrücken.
Ist freilich Jérémie zunächst die treibende Kraft, die die anderen provoziert, wird er doch zunehmend zum Objekt der Begierde. Vielleicht will er sich nämlich zunächst wirklich – wie Vincent vermutet – an die Witwe heranmachen und die geschlossene Bäckerei übernehmen, so wird sie schließlich doch den Spieß umdrehen und auch der Priester wird schließlich sein Wissen nützen, um Jérémie zu dirigieren.
Denn was als Drama beginnt, entwickelt bald einen Krimi-Plot, bei dem sich die beiden Polizisten allerdings so unfähig oder schräg anstellen, dass komödiantische Momente nicht ausbleiben. So irritiert und fasziniert "Miséricorde", der angesichts der Untätigkeit und Gleichgültigkeit der Menschen angesichts der globalen Probleme für Barmherzigkeit und Vergebung im privaten oder dörflichen Bereich plädiert, auch durch den Wechsel der Tonlagen.
Aber auch der Gegensatz zwischen den Steinhäusern des Dorfes und dem von warmen Farben bestimmten leuchtenden herbstlichen Blättermeer des Waldes, in dem der Pfarrer immer wieder auftaucht, um Pilze zu sammeln, sorgt nicht nur für einen starken visuellen Akzent, sondern lässt auch die Frage offen, wieso Guiraudie seinen Film geradezu aufdringlich in dieser Jahreszeit verankert.
Bis zum Ende nicht wirklich fassbar bleibt "Miséricorde", baut aber durch die ebenso nüchterne wie ruhige, aber konzentrierte Inszenierung und das starke Ensemble durchgehend Spannung auf und sorgt mit seinem Verzicht für Erklärungen dafür, dass man diesen vertrackten Genremix nicht so leicht aus dem Kopf bekommt und sich auch nach Filmende mit den Leerstellen und Rätseln, die aufgebaut, aber nicht gelöst werden, beschäftigt.
Miséricorde
Frankreich / Spanien / Portugal 2024
Regie: Alain Guiraudie
mit: Félix Kysyl, Catherine Frot, Jean-Baptiste Durand, Jacques Develay, David Ayala
Länge: 104 min.
Läuft jetzt in den österreichischen Kinos.
Trailer zu "Miséricorde - Misericordia"
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