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AutorenbildWalter Gasperi

Mi país imaginario


Hoffnungsvoll dokumentiert Patricio Guzman die chilenischen Proteste von 2019 bis hin zur Ausarbeitung einer neuen Verfassung und der Wahl Gabriel Boric´s zum Präsidenten, erinnert sich aber gleichzeitig auch immer wieder an die Militärdiktatur unter Pinochet.


Chile ist das große Thema von Patricio Guzman. Vom legendären Dokumentarfilm "Die Schlacht um Chile" (1975 – 1979), in dem er Aufstieg und Sturz Salvador Allendes nachzeichnete, bis zur Trilogie "Nostalgia de la luz" (2010), "El botón de nácar" (2015) und "La cordillera de los sueños" (2019) setzte er sich immer wieder mit der Geschichte seines Heimatlandes, besonders mit Allende und der Militärdiktatur unter General Pinochet und deren Folgen, auseinander.


Ganz auf die Gegenwart scheint der große Dokumentarfilmer in "Mi país imaginario" zu fokussieren, wenn er die Proteste dokumentiert, die nach einer im Grunde eher geringen Erhöhung der Metro-Fahrpreise in Santiago de Chile am 18. Oktober 2019 einsetzten.


Doch die Massen auf dem Hauptplatz der chilenischen Hauptstadt, die mit Drohnenflug eingefangen werden, wecken bei Guzman sogleich Erinnerungen an die Begeisterung um Allendes Wahlsieg 1970. Schwarzweiße Bilder Jahren fließen so in den Film ein und auch in der Folge lösen die aktuellen Ereignisse mehrfach solche Erinnerungen aus. Dem Terror der Militärdiktatur wird dabei immer wieder der hoffnungsvolle Aufbruch der Gegenwart gegenübergestellt.


Hautnah ist Guzman bei den Auseinandersetzungen auf den Straßen mit der Kamera dabei. Er filmt die Kochtopfkonzerte, Sprechchöre und Steinwürfe der Demonstrant*innen, bei denen junge Menschen und Frauen den Ton angeben, ebenso wie das brutale Vorgehen von Polizei und Militär, das Wasserwerfer und Tränengas einsetzt und auch auf Flüchtende einschlägt.


Unterbrochen werden diese dokumentarischen Szenen durch Interviews, in denen ausnahmslos Frauen zu Wort kommen. Eindrücklich berichten sie nicht nur von der Brutalität der Einsatzkräfte und einer dadurch erlittenen schweren Augenverletzung, sondern auch von den Motiven für den Protest. Minimale Renten, die die Pensionisten in die Armut treiben, werden ebenso thematisiert wie für die Durchschnittsbevölkerung nicht leistbare Schulkosten, Diskriminierung der indigenen Bevölkerung und Homosexueller sowie patriarchale Strukturen.


Mitgerissen ist Guzman sichtlich von dieser Aufbruchsstimmung und von der Wut des Volkes, das nicht von politischen Parteien oder einem Anführer gelenkt wird, sondern sich selbst organisiert und protestiert, bis es schließlich sein Ziel erreicht.


Voll Empathie beschwört er den Wandel, wenn das Nationalstadion, das in vielen seiner Filme vorkommt und das zur Zeit Pinochets das größte Konzentrationslager des Landes war, nun eine der Wahlstätten der demokratischen Abstimmung über die Schaffung einer Verfassunggebenden Versammlung ist.


Aufbruchsstimmung verbreitet er auch, wenn sich der Raum dieser Versammlung, die seit der Diktatur über 35 Jahre geschlossen war, wieder füllt und die Versammlung wieder ihre Arbeit aufnimmt, um eine neue Verfassung auszuarbeiten. Gebrochen scheint dabei auch die Macht der Männer, wenn erstmals eine Indigene dieser Versammlung vorsitzt und eine junge lesbische Frau ihre Anliegen formuliert.


Vom wütenden Protest bewegt sich der Film so zur Wahl des linken 35-jährigen Gabriel Boric zum Präsidenten (März 2022) und den demonstrierenden Massen am Beginn steht am Ende eine nahezu unüberschaubare jubelnde Masse gegenüber, die wiederum mit Drohnenflug eingefangen wird.


Voll Optimismus endet "Mi país imaginario" so und Guzman beschwört die Hoffnung, dass sein Traum von einer gerechten Gesellschaft endlich Wirklichkeit werden kann. – Doch diese Hoffnungen und Träume haben nach Fertigstellung des Films schon wieder einen schweren Dämpfer erlitten, denn die vom Verfassungskonvent ausgearbeitete Verfassung, die unter anderem ein Recht auf Wohnraum, Gesundheit und Bildung sowie ein Selbstbestimmungsrecht der Indigenen vorgesehen hätte, wurde bei der Abstimmung am 4. September dieses Jahres von 61,9% der wahlberechtigten Bevölkerung abgelehnt. Weiterhin in Kraft bleibt somit die noch aus der Zeit der Militärdiktatur stammende Verfassung.



Mi país imaginario Chile 2022 Regie: Patricio Guzman Dokumentarfilm Länge: 83 min.



Läuft derzeit in den Schweizer Kinos, z.B. im Kinok St. Gallen und Skino Schaan.


Trailer zu "Mi país imaginario"



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